Basel. Der Ausflug an einen kleinen Ort an den Zürichsee war rückblickend viel wert. Damit Ann-Katrin Berger mal abschalten konnte. Über Belanglosigkeiten reden. Gedanken teilen. Das Leben besteht aus viel mehr als nur Fußball, erzählt sie Vertrauten immer wieder. Ihr Großvater hat das in einem Arbeitslager nach Kriegsende in den dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte grauenvoll erfahren. Die gebürtige Schwäbin schaut so ehrfurchtsvoll zu ihm auf, weil dagegen sogar ihre Behandlungen wegen Schilddrüsenkrebs verblassen. Auch für den 92-jährigen Opa gibt Deutschlands Torhüterin bei dieser EM alles. Verwandelt einen Strafstoß, hält zwei Elfmeter – und einmal fürs Geschichtsbuch.
Am Ende rutschte sie genau um Mitternacht nach dem EM-Viertelfinalthriller gegen Frankreich (6:5 nach Elfmeterschießen, 1:1, 1:1) auf Knien über den Rasen und breitete die Arme aus. Dann fielen die Mitspielerinnen über die Matchwinnerin her. Den ersten Satz in die Kamera widmete die 34-Jährige wieder der Verwandtschaft. „Das ist für dich, Opa!“, brüllte sie aus Basel.
Am Mittwoch wartet Weltmeister Spanien im EM-Halbfinale
Herbert Horner will erst zum Finale im St. Jakob-Park (Sonntag, 18 Uhr/ZDF) wiederkommen. Vor seinen Augen anzutreten treibt Deutschlands Nummer eins an: „Ich freue mich auf die E-Mail von ihm. Ich mag das Stadion. Aller guten Dinge sind drei.“ Doch dafür müsste im Halbfinale Topfavorit Spanien in Zürich (Mittwoch, 21 Uhr/ARD) besiegt werden. Aber wer bitte hat gegen den Weltmeister im Spiel um Bronze bei den Olympischen Spielen in der Nachspielzeit einen Elfmeter von Alexia Putellas gehalten? Eben: Berger.
Eine, die es vom Typ gar nicht in den Mittelpunkt drängt, machte wieder ihr Ding. Sie geriet nach einem „unvergesslichen Abend für alle, die mit Deutschland mitgefiebert haben“ (Bundestrainer Christian Wück) unweigerlich in den Fokus. Dass sie die nicht sonderlich platzierten Versuche von Amel Majri und Alice Sombath entschärfte, bettete Berger zu nächtlicher Stunde in einen selbstkritischen Kontext. Sie sei einige Male zu früh in die falsche Ecke gesprungen, weil sie die sorgsam auf ihre Trinkflasche geklebten Bilder mit den Vorlieben der französischen Schützinnen ignoriert hatte. „Ich habe kein einziges Mal draufgeguckt. Mein Torwarttrainer hat sich so viel Mühe gegeben: Ich bin ein Typ, der intuitiv handelt.“
Ann-Katrin Berger: „Die Mannschaft hat die ganze Arbeit gemacht“
Deutschlands Fußballerin des Jahres 2024 fand: „Die Mannschaft hat die ganze Arbeit gemacht. Heidenrespekt.“ Gebührt eigentlich aber einer, die eine der besten Rettungstaten in der Geschichte des Frauenfußballs vollbrachte. Als sie in einem atemberaubenden Sprung ein Kopfball-Eigentor von Janina Minge verhinderte, staunten 34.128 Augenzeugen im Stadion und 10,7 Millionen Zuschauer am Fernseher. Bei diesem tückisch abgefälschten Ball, überlegte sie, sei wohl eine Mischung „aus Reaktion und Instinkt“ zusammengekommen: „Ich weiß nicht, wie ich da noch hingekommen bin.“ Auf jeden Fall habe ihr die Schulter danach ganz schön wehgetan. Wie Gordon Banks für England bei der WM 1970 gegen den großen Pelé mal eine Jahrhundertparade hinlegte, hat Berger bei der EM 2025 eine Glanztat für die Ewigkeit vollbracht. Der Flug ihres Lebens.
Klar, dass die Mitspielerinnen aus dem Schwärmen nicht herauskamen. Elisa Senß nannte sie eine „Elfmeterkillerin“. Klara Bühl meinte: „Sie hat heute wieder gezeigt, wie unfassbar sie ist. Was für eine Persönlichkeit.“ Der deutsche Rückhalt mag eine enorme Coolness ausstrahlen, aber sie ist gewiss kein fliegender Eisblock. Ohne Herzenswärme in der Gemeinschaft hält sie nicht gut. Deshalb hat sie die WM 2023 so enttäuscht, als die Harmonie verloren ging. Auch unter den Torhüterinnen. In jener Phase bestand Merle Frohms unter Martina Voss-Tecklenburg noch erfolgreich darauf, jede Partie zu bestreiten.
Horst Hrubesch ernennt Berger vor Olympia zur Nummer eins
Erst Übergangslösung Horst Hrubesch erkannte vor Olympia, dass Berger dem verunsicherten Team mehr Sicherheit geben würde. Frohms trat danach zurück. Stina Johannes als Vertreterin unterstützt Berger in jeder Minute. Die Keeperin kaschiert die fußballerischen Defizite ihrer Vorderleute. „Sie ist eine der wenigen mit unheimlich viel Erfahrung“, warf Wück ein: „Ihr Lebensweg hat sie dahin gebracht, so ruhig kritische Situationen zu bewältigen. Und diese Sicherheit ist für das Teamgefüge unheimlich wichtig.“
Berger hatte nach der Lektion gegen Schweden (1:4) auf eine solche Trotzreaktion gesetzt: „Wir haben uns den Respekt wieder verdient. Jetzt müsste jede Mannschaft Angst vor uns haben.“ Jedenfalls vor ihr, die vor dem Halbfinale noch mal runterfahren wird. Schöne Plätze zur Entspannung gibt es in Zürich und Umgebung genügend.
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