Interview

Handball-Star Bitter: „Darf keine Entwicklung wie im Fußball geben“

Der ehemalige deutsche Nationaltorwart Johannes Bitter macht sich seit Jahren Gedanken um die Belastung im Handball. Im Interview berichtet er über diesen andauernden Kampf. Außerdem fordert Bitter, dass sich Spieler entweder klar für oder gegen Einsätze im Nationalteam aussprechen.

Von 
Marc Stevermüer
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Ein Gesicht des deutschen Handballs: Johannes Bitter. © imago/Ralf Homburg

Remseck. Herr Bitter, Sie haben sich aus der Nationalmannschaft verabschiedet. Reden wir über einen Ihrer Nachfolger: Andreas Wolff wurde gerade ins All-Star-Team der WM gewählt. Ist er momentan der beste Torwart der Welt?

Johannes Bitter: Dieser Superlativ ist immer schwer zu belegen. Andi ist sicherlich einer der zwei, drei Weltbesten. Aber ich tue mich da schwer, einen einzigen rauszupicken. Das wäre auch despektierlich den anderen Torhütern gegenüber.

Sie kennen Andreas Wolff als Kollegen und haben ihn zuletzt in einer Beobachterrolle wahrgenommen. Was fällt Ihnen auf?

Bitter: Andi ist ruhiger und gelassener geworden. Ich habe ihn als höchst ehrgeizig erlebt. Als jemanden, der sich über jeden Ball ärgerte, den er nicht gehalten hat. Aber das hat ihn nicht stärker gemacht. Mittlerweile akzeptiert Andi, dass er in jedem Spiel 20 bis 30 Tore kassiert.

Ist er der einzige Hoffnungsträger für die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) mit Blick auf die Heim-EM 2024?

Bitter: Eine schwierige Frage. Andi Wolff ist auf jeden Fall ein Hoffnungsträger für die EM. Ihn brauchen wir als Basis. Juri Knorr hat sicherlich eine tolle WM gespielt, aber man tut ihm keinen Gefallen, die Erwartungen an ihn jetzt ins Unermessliche zu schrauben. Er kann ein wichtiger Baustein sein, aber man sollte den Mannschaftserfolg nicht allein auf ihm aufbauen. Und dann haben wir noch Julian Köster, der enorm wichtig sein wird. Diese drei Leute machen schon Hoffnung.

Reicht das, um ins Halbfinale zu kommen?

Bitter: Die halbrechte Position ist ein Thema. Da gibt es in der deutschen Mannschaft nicht den einen dominanten Spieler. Hier haben wir aber vielfältige Möglichkeiten. Wir haben auch in den Länderspielen gegen Dänemark gesehen, dass den Deutschen als Einheit ein Stück zur Weltspitze fehlt. Das ist meiner Meinung nach eine realistische Einordnung, mit der man aber arbeiten kann. Es gibt entsprechend keinen Grund, in Panik zu verfallen.

Warum nicht? Die Heim-EM beginnt in weniger als zehn Monaten. Und da soll um Edelmetall gespielt werden, wie der Verband klargemacht hat.

Bitter: Eine EM-Medaille wird mit Sicherheit kein Selbstläufer. Dennoch bin ich ein Freund von hohen Zielen, damit man etwas hat, auf das man hinarbeiten kann. Wenn diese deutsche Mannschaft ins Halbfinale kommen will, wird sie sich als echte Mannschaft präsentieren müssen. Das hat erfolgreiche deutsche Teams immer ausgezeichnet. Es geht nicht um Einzelne, sondern darum, als Ganzes zu überzeugen und zu funktionieren. Da haben wir noch Luft nach oben. Ich bin mir allerdings recht sicher, dass dabei der Heimvorteil helfen wird.

Seit mehr als zehn Jahren setzen Sie sich auch über die Spielergewerkschaft GOAL für die Interessen der Handballprofis ein. Wie sehr ist das Thema „Belastung und Spielplangestaltung“ mittlerweile bei Verbänden und Ligen angekommen?

Bitter: Dieses Thema müssen wir immer wieder und überall auf die Tagesordnung heben. Denn man sieht ja auch, dass stets Verbesserungen möglich sind. In diesem Jahr stehen an und nach Weihnachten keine Bundesligaspiele an, weil Bundestrainer Alfred Gislason mit Blick auf die Heim-EM darum gebeten hat. Jetzt geht es also. In den vergangenen Jahren ging es nicht. Ich meine das gar nicht als Vorwurf. Aber allein an diesem Beispiel sehen wir doch, dass es immer noch Lösungen und Alternativen gibt, um beim Thema „Spielplan und Belastung“ voranzukommen.

Am Ende sind immer die Spieler die Leidtragenden. Wer bewegt sich denn nicht?

Bitter: Es gibt eine grundsätzliche Einigkeit bei den Ligen und den Verbänden, dass die Spieler das wichtigste Gut im Handball-Zirkus sind. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Spieler durch die häufige Sichtbarkeit in den vergangenen zehn, 15 Jahren in Form von steigenden Gehältern profitiert haben. Aber es gibt natürliche Grenzen. Und die dürfen wir nicht überschreiten. Denn dann kippt das System und es implodiert automatisch, weil die Spieler nicht mehr können.

An welcher Stelle muss reduziert werden?

Bitter: Mit Wegstreichen werden wir nur bedingt oder gar nicht weiterkommen. Denn keiner will etwas abgeben. Klar ist sicherlich, dass wir nicht noch größere oder sogar zusätzliche Wettbewerbe benötigen, so wie es die FIFA (Weltfußballverband: Anm. d, Redaktion) macht. Im Handball darf es also keine Entwicklung wie im Fußball geben. Diese Aufblähung der Wettkämpfe oder die Einführung neuer Wettbewerbe brauchen wir nicht. Das ist das eine Thema, bei dem wir mit Ligen und Verbänden im Gespräch sind.

Und das andere?

Bitter: Wir müssen weiterhin darüber reden, wie lange eine Saison dauert. Da gibt es bereits erste Erfolge, weil im Juni nicht mehr jede Nationalmannschaft um etwas Wichtiges spielt und deshalb die vielbelasteten Topspieler nicht mehr zwingend dabei sein müssen. Meiner Meinung nach kann man das aber alles noch ein bisschen mehr straffen und dadurch die Sommerpause verlängern.

Einige deutsche Profis verzichten auf die Nationalmannschaft. Sie selbst haben auch einmal eine Pause im DHB-Team eingelegt. Haben Sie also Verständnis dafür, wenn jemand nicht für Deutschland spielen möchte?

Bitter: Grundsätzlich war es für mich immer eine große Ehre, für Deutschland zu spielen. Als ich 2011 eine Pause eingelegt habe, lagen 15 Jahre hinter mir, in denen ich zusätzlich zu allen nationalen und internationalen Wettbewerben mit dem Club auch schon mit Jugend-, Junioren- und A-Nationalmannschaft wirklich alles gespielt habe. An diesem Punkt habe ich gemerkt, dass die Luft raus ist, dass ich meine Ruhe haben will und darauf keine Lust habe. Es war mir zu viel. Und es erklärt sich von selbst, dass man an solch einem Punkt nicht auf sein Brot- und Buttergeschäft Bundesliga verzichten kann. Ich wünsche mir, dass die besten 20 Spieler das bestmögliche Team für Deutschland bilden, aber ich akzeptiere es entsprechend, wenn jemand nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen will. Das sind individuelle Entscheidungen mit persönlichen Beweggründen. Aber es muss verbindlich sein und ein offenes und klares Wort gesprochen werden. Der Bundestrainer muss wissen, woran er ist, mit wem er arbeiten und auf wen er sich verlassen kann.

Die neureichen skandinavischen Vereine Kolding und Aalborg haben den Transfermarkt ein wenig durcheinandergewirbelt. Von einer Flucht der Stars aus der Bundesliga war die Rede, weil Niklas Landin und Sander Sagosen in diesem Sommer gehen. Doch die Füchse Berlin holten Mathias Gidsel und Flensburg verstärkt sich zur neuen Saison mit den Weltmeistern Simon Pytlick und Lukas Jörgensen. Gibt es bereits wieder eine Trendwende?

Bitter: Der Begriff Trendwende ist mir zu groß. Ich weiß auch nicht, ob es vorher einen Trend in die andere Richtung gab. Ich glaube eher, dass so etwas immer in Sinuskurven verläuft. Die Bundesliga hat viel zu bieten – auch gut dotierte Verträge. So ehrlich müssen wir sein. Natürlich gibt es Ausreißer nach oben bei Vereinen in anderen Ländern, wo man exorbitant gut verdient. Aber dort gibt es andere Einschnitte. Will man jede Woche vor 20 Zuschauern spielen und es interessiert keinen? Oder dann doch lieber volle Hallen mit einer riesigen öffentlichen Reichweite? Da hat die Bundesliga immer ein Pfund in der Hand.

Das Titelrennen in der Bundesliga ist gerade spannend wie nie, weil viele Mannschaften Meister werden können…

Bitter: … und als Fan unserer Sportart wünsche ich mir genau diese Tabellenkonstellation an der Spitze. Wenn man nicht Fan dieser Liga ist, von was denn dann? Vier, fünf Mannschaften laufen gerade vornweg, hangeln sich aber auch von Spiel zu Spiel, weil fast jeder irgendwie Punkte liegen lässt. Das ist für diese Mannschaften unglaublich intensiv und für die Fans unglaublich spannend. Ich finde diese Entwicklung mega gut, auch wenn sie das in Kiel und Magdeburg sicherlich anders sehen (lacht).

Wem trauen Sie den Titel zu?

Bitter: Vor zwei Wochen hätte ich die Frage noch anders beantwortet. Ich hatte die Rhein-Neckar Löwen echt ganz oben auf dem Zettel, aber der Ausfall von Olle Forsell Schefvert bei der Niederlage in Leipzig tat weh. Der SC Magdeburg hat gerade eine kleine Delle. Jetzt würde ich eher auf den THW Kiel oder die Füchse Berlin tippen. Ganz viel entscheidet sich vermutlich am Sonntag. Wenn Berlin in Kiel gewinnt, sind die Füchse der absolute Favorit.

Viel entscheidet sich aber auch am Donnerstag (19.05 Uhr), wenn Hamburg bei den Löwen spielt. Die Mannheimer haben bislang alle Spiele gegen Ihre Mannschaft seit dem Aufstieg des HSV verloren.

Bitter: Wir können die Statistik sogar noch weiterspannen: Der HSV Hamburg hat seit seinem Aufstieg im Jahr 2021 noch nie in Baden-Württemberg verloren.

Dann ist ja klar, wie es ausgeht.

Bitter: Natürlich wissen wir, dass uns die Löwen bislang ganz gut gelegen haben oder dass wir es dreimal ganz gut hinbekommen haben. Aber um im Bild zu bleiben: Was ist unangenehmer als ein angeschossener Löwe?

Seit mehr als 20 Jahren spielen Sie in der Bundesliga. Bei allem Ehrgeiz: Ist Ihr Blickwinkel auf das Geschehen mittlerweile ein anderer?

Bitter: Absolut. Ich habe schon einige Momente der Ungewissheit durchlebt. Denken wir nur an die Pleite des HSV. Ich habe mich auch gefragt, was ich mache, wenn es beim TVB Stuttgart nicht weitergeht. Ich habe immer überlegt, was die Zukunft so bringt. Ich habe aber schon mit Mitte 30 entschieden, mir nicht mehr so viele Gedanken zu machen und lieber noch einmal so richtig in den Kuchen zu beißen und das alles zu genießen. Ich fahre jetzt nicht nach Mannheim und sage mir: Wenn ich keine 15 Bälle halte, bin ich ein schlechter Mensch. Sondern ich fahre dahin und will meinen Spaß haben. Ich bin weit davon entfernt, mir irgendwie Druck zu machen oder mir einzureden, dass ich irgendwas schaffen muss. Ich weiß ganz einfach, dass es ein riesiges Privileg ist mit, mit 40 Jahren noch in dieser Liga zu spielen. Ich genieße die Bundesliga Woche für Woche.

Also hat Andi Wolff von Ihnen gelernt.

Bitter (lacht): So ist es. Genau so und nicht anders.

Johannes Bitter

  • Johannes Bitter wurde am 2. September 1982 in Oldenburg geboren.
  • Der Torwart bestritt 175 Länderspiele für die deutsche Handball-Nationalmannschaft und gewann mit dem Team 2007 WM-Gold.
  • Mit dem SC Magdeburg gewann Bitter 2007 den EHF-Pokal. Mit dem HSV Hamburg holte er den DHB-Pokal (2010), die Meisterschaft (2011) und die Champions League (2013).
  • Der 40-Jährige ist Mitbegründer von GOAL, der Gemeinschaftlichen Organisation aller Lizenzhandballer in Deutschland.
  • Profi-Stationen: SG VTB Altjührden (1999-2002), Wilhelmshavener HV (2002-2003), SC Magdeburg (2003-2007), HSV Hamburg (2007-1016), TVB Stuttgart (2016-2021), HSV Hamburg (seit 2021).

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Redaktion Handball-Reporter, Rhein-Neckar Löwen und Nationalmannschaft

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