Köln. Die ganze Dimension der internen Anspannung verriet der Deutsche Handballbund (DHB) am Sonntag um 41 Minuten nach Mitternacht. Da lud nämlich der Verband zur Pressekonferenz am nächsten Morgen ein. Und anders als sonst wurde kein einziger Spieler als Gesprächspartner angekündigt, sondern ausschließlich Sportvorstand Axel Kromer. Um „alle verfügbare Energie darauf zu konzentrieren, die kommenden beiden Spiele zu gewinnen“, hieß es.
Das klingt erstmal gut, heißt aber nichts anderes als: Der DHB schottet sich bei der Heim-EM vor dem nächsten Schlüsselspiel, ja diesmal sogar Schicksalsspiel am Montag (20.30 Uhr/ZDF) gegen Ungarn ab. Auch weil er weiß, was die Stunde nach dem Warnschuss beim überaus glücklichen 22:22 gegen Österreich am Samstagabend geschlagen hat. „Das war unglaublich schlecht von uns. Das bringt uns womöglich um unsere Ziele“, schimpfte Kapitän Johannes Golla.
Die Gegner werden nicht schlechter und der Druck nicht kleiner.
Den Halbfinaleinzug hat der Europameister von 2016 nach dem Punktverlust nicht mehr in der eigenen Hand. Und doch ist die Lage keinesfalls aussichtslos. Im Gegenteil: Eine Niederlage der Österreicher gegen Titelkandidat und Olympiasieger Frankreich vorausgesetzt, reichen den Deutschen zwei Siege über Ungarn und Kroatien (Mittwoch 20.30 Uhr/ARD). Kein völlig unrealistisches Szenario, weshalb Bundestrainer Alfred Gislason nach dem Unentschieden gegen die bei diesem Turnier immer noch ungeschlagene Überraschungsmannschaft aus der Alpenrepublik festhielt: „Dieser Punkt kann für uns noch ganz wichtig sein.“
Das stimmt zwar. Kapitän Golla blieb aber lieber im Klartext-Modus: „Die Gegner werden nicht schlechter und der Druck nicht kleiner. Wir müssen den Arsch hochbekommen.“ Was seine Mannschaft gegen Österreich erst in der Schlussphase gelang. Die Deutschen kamen nach einem Fünf-Tore-Rückstand zurück, hatten im letzten Angriff sogar die Chance auf den Sieg, der aber wahrlich unverdient gewesen wäre.
Nun hätten es sich die DHB-Stars einfach machen und auf die furiose Aufholjagd verweisen können. Auf solch ein „wildes Spiel“, wie es Rechtsaußen Timo Kastening nannte, lässt sich ja auch wirklich immer aus zwei Blickwinkeln schauen. Und es macht aus Sicht eines Spielers vermutlich sogar viel mehr Sinn, das Positive wie eben den 6:1-Lauf bis zum 22:22-Endstand herauszuheben.
Um diese Form der Deutung waren die Deutschen aber nur vereinzelt bemüht. Vielmehr steckte ihnen nach dieser schockierenden Begegnung mit der Realität der Schreck in den Knochen. 23 Fehlwürfe, elf technische Fehler. Da wird es schwer, ein Spiel zu gewinnen. Dass es zumindest nicht verloren ging, lag wieder einmal an Torwart Andreas Wolff (14 Paraden). Sein österreichischer Kollege Constantin Möstl machte seine Sache sogar noch besser, was dem Keeper in der Interviewzone eine ehrlich gemeinte Gratulation von DHB-Spielmacher Juri Knorr einbrachte, als die beiden nebeneinanderstanden.
Der Mittelmann der deutschen Mannschaft hatte zu Spielbeginn auf der Bank gesessen. Nach einer Erkrankung sei er „ein bisschen schlapp“ gewesen. Doch es dauerte nur zwölf Minuten, da zog der 23-Jährige von den Rhein-Neckar Löwen schon seine Jacke aus und kam für den völlig indisponierten Philipp Weber in die Partie. „Vier Fehler“ hatte nicht nur Gislason bis dahin beim Magdeburger gezählt, mal wieder rückte ein größeres Problem in den Mittelpunkt, das der Bundestrainer diesmal auch klar ansprach: „Wir haben im Rückraum nicht die Breite wie andere Mannschaften.“ Viel laste auf Knorr und Julian Köster, die rechte Seite habe gar keine Torgefahr ausgestrahlt, zählte Gislason die Defizite auf.
Rhein-Neckar Löwe Juri Knorr äußert sich zu Kritik
Auch wenn Christoph Steinert gegen Österreich mit seinem Treffer den 22:22-Endstand besorgte, spielen die Deutschen bei diesem Turnier praktisch ohne Rückraum-Linkshänder. Der 21-jährige Renars Uscins geriet zuletzt gegen Frankreich und Island an in diesem Alter durchaus erwartbare Grenzen, Steinert hat seine Qualitäten eindeutig in der Abwehr. Und Kai Häfner ist zwar der älteste Spieler im Kader, aber absolut kein Ruhepol.
Und so hängt mal wieder viel an Knorr, der nach der Partie am Freitag gegen Island (26:24) von einigen Ex-Nationalspielern wie Pascal Hens, Michael Kraus und Stefan Kretzschmar in einer Talksendung des Streaminganbieters „Dyn“ ungewohnt scharf kritisiert wurde. Dem wurde zwar keine größere Beachtung geschenkt, wenn man einmal vom Boulevardblatt „Bild“ absieht. Was vermutlich auch daran liegt, dass sowohl „Dyn“ als auch „Bild“ über den Axel-Springer-Konzern miteinander verbunden sind - und man so seine eigene Sendung promoten konnte. Die teils fragwürdige Wortwahl der Ex-Nationalspieler kam aber auf jeden Fall auch bei Knorr an.
In gewohnt ruhigem Ton nahm er dazu souverän Stellung, der 23-Jährige wählte seine Worte mit Bedacht, ohne auch nur im Ansatz irgendwie verbal zurückzuschießen. „Ich bin absolut kritikfähig und ich weiß ja auch, dass es nicht mein bestes Spiel war. Aber ich habe jetzt auch häufig genug gesagt, dass ich nicht bei 100 Prozent meiner Kräfte war“, sagte Knorr. Die Attacken der „Legenden“ hätten ihn „natürlich“ getroffen, er nehme sich das „zu Herzen und finde es in dem Moment einfach schade. Aber ich akzeptiere das. Es ist alles okay.“ Er wisse selbst, dass er besser spielen müsse, „wenn ich auf der Platte stehe. Aber es hat immer seine Gründe. Ich glaube, man sollte immer das große Ganze sehen, bevor man mit dem Finger auf den anderen zeigt.“
Zum großen Ganzen gehört bisweilen auch ein Blick in die Statistiken, die überall nachlesbar sind: Sowohl in den beiden Freundschaftsspielen vor der EM gegen Portugal als auch danach in allen fünf Turnierpartien war Knorr bester Torschütze der deutschen Mannschaft.
Übrigens: Experte Kretzschmar sagte im Zuge seiner Knorr-Kritik: „Warum mal nicht Weber? Alfred muss doch den Weber jetzt mal bringen.“ Genau das machte der „Alfred“ am Samstag. Das Ergebnis ist bekannt.
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