Mannheim. Es ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens, sich Ziele zu setzen. Manche bleiben unerreicht, andere werden von der To-do-Liste gestrichen. Was für ein Gefühl muss es aber sein, wenn Dinge Wirklichkeit werden, von denen man nicht einmal zu träumen gewagt hat?
So, wie bei Nadine Gonska. Als sie Anfang 2010 zur MTG Mannheim wechselte, war sie 20 Jahre jung. „Eigentlich wollte ich die Leichtathletik hobbymäßig weiterbetreiben“, erinnert sie sich. Jetzt, eine Dekade später, ist vieles anders gekommen. Besser. In Tokio (23. Juli bis 8. August) wird die 31-Jährige ihre zweiten Olympischen Spiele erleben – und das in zwei verschiedenen Disziplinen. Nachdem sie sich 2016 in Rio de Janeiro über die 200 Meter qualifizierte, ist sie nun wichtiger Bestandteil der 4x400-Meter-Staffel. „Olympia in Brasilien kam für mich ziemlich unverhofft, auf diese Sommerspiele habe ich dagegen lange hingearbeitet“, stellt Gonska den größten Unterschied heraus.
In den vergangenen Monaten bewies die Grundschullehrerin großes Kämpferherz. Die Umstellung auf die Stadionrunde klappte zwar besser als gedacht, vor drei Jahren stellte sie in 52,00 ihre heute noch gültige Bestzeit auf, feierte den Titel bei den Deutschen Meisterschaften. Verletzungen bremsten sie danach aber aus, auch die vergangene Hallensaison verlief alles andere als optimal. Doch Gonska biss auf die Zähne und sich durch. Beim Meeting in Wetzlar lief sie am vergangenen Samstag bis auf 19 Hundertstel an ihren Hausrekord heran. „Ich war so schnell wie zuletzt vor drei Jahren“, jubelt sie, und ihr Trainer Rüdiger Harksen konstatiert zufrieden: „Wir haben alles richtig gemacht, unser Saisonaufbau zahlt sich aus.“
Das sehen die Verantwortlichen beim Deutschen Leichtathletik Verband genauso, ein Staffelplatz sollte ihr sicher sein. Dabei hat der DLV in Tokio zwei Eisen im Feuern, denn es qualifizierte sich über 4x400 Meter nicht nur das Frauen-, sondern auch ein Mixed-Team für die Olympia-Premiere. „Ob und wo ich eingesetzt werde, weiß ich nicht. Wir werden sehen“, gibt sich Gonska zurückhaltend. Klar ist nur, dass sie am 19. Juli den Flieger Richtung Japan besteigt. Zunächst geht es ins Akklimatisierungstrainingslager nach Miyazaki.
Gonska ist sich bewusst, dass es außergewöhnliche Sommerspiele für die Sportlerinnen und Sportler werden. „Wir müssen uns an strenge Richtlinien und Auflagen halten und unter anderem täglich unseren Gesundheitszustand dokumentieren“, erklärt die 31-Jährige. Dass bei den Wettkämpfen keine Zuschauer dabei sein dürfen, nahm sie enttäuscht, aber mit Verständnis zur Kenntnis. „Natürlich wäre es mit Fans im Stadion schöner gewesen, wir haben in den vergangenen Monaten aber gelernt, ohne Anfeuerung von Zuschauern schnell zu rennen.“
Dabei ist das mit dem „Rennen“ in ihrer Disziplin so eine Sache. Die 400 Meter gelten als Strecke, auf der man den inneren Schweinehund besiegen muss. Die komplette Stadionrunde im Vollsprint zu absolvieren, funktioniert nicht. Im Ziel dürfen jedoch auch keine Körner mehr übrig sein. Das ist ein schmaler Grat. „Es ist schon eine Kunst, das richtige Tempo zu treffen“, betont Gonska. Bis 200 oder 300 Meter hat sie sich einen Richtwert antrainiert, äußere Umstände machen eine Punktlandung allerdings schwierig. Wie am Samstag. Auf den ersten 200 Metern blies den Läuferinnen ein starker Wind ins Gesicht. Das war gar nicht nach dem Geschmack der Mädels. „Ein bisschen Rückenwind wäre schon schön gewesen, denn hinten raus werden die 400 Meter eh hart genug“, sagt Gonska.
Zeugnisnoten stehen
Herausfordernd waren die vergangenen Monate ohnehin. Als wäre es nicht schwer genug, den Job als Grundschullehrerin mit dem Hochleistungssport zu vereinbaren, kam noch das Meistern einer Pandemie hinzu, die Lehrerinnen und Schüler viel abverlangten. „Ich bin froh, dass ich das gut unter einen Hut bringen konnte und bin dankbar für die Unterstützung, die ich von vielen Seiten erfahre“, sagt Gonska. Dass sie zehn Tage vor dem Beginn der Sommerferien in Baden-Württemberg nach Japan aufbricht, ist abgeklärt. „Ich bin freigestellt, die Zeugnisse sind bis dahin fertig“, erklärt die 31-Jährige, die sich freut, dass die vier MTG-Kolleginnen Ricarda Lobe, Hannah Mergenthaler, Lisa Nippgen und Jessica-Bianca Wessolly ebenfalls das Olympia-Ticket gelöst haben.
Nach der Nominierung des Leichtathletik-Teams für die Sommerspiele in Tokio durch den Deutschen Olympischen Sportbund Anfang Juli war Gonska aber auch als Trostspenderin gefragt. „Triumph und Tragödie liegen oft eng beieinander“, hatte Harksen das beschrieben, was vor allem für Gonska zutraf. Denn während sie sich für Olympia qualifizierte, klappte es für ihren Freund Patrick Domogala – wie bereits 2016 – knapp nicht. „Das war schon eine schwierige Situation. Daher bin ich ihm auch sehr dankbar, dass er mich so sehr unterstützt, obwohl es für ihn selbst so schmerzhaft ist“, sagt Gonska. Doch das Paar weiß: Es gibt auch andere Ziele im Leben – nicht nur sportliche.