Interview

„Ich singe die Hymne aus Respekt vor Deutschland“

Handball-Bundestrainer Alfred Gislason stattete dieser Redaktion einen Besuch ab. Im Interview sprach der Isländer über seine Beziehung zu Deutschland und das Fernziel Heim-EM 2024. Die Größe der Bundesliga bezeichnete er als „Problem für die Nationalmann

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Marc Stevermüer
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Alfred Gislason wollte eigentlich nur zwei Jahre in Deutschland bleiben – nun sind es mehr als zwei Jahrzehnte.. © Sörli Binder (1)/dpa (1)

Herr Gislason, Sie waren zuletzt zusammen mit der deutschen Handball-Ikone Stefan Kretzschmar beim Rammstein-Konzert in Berlin. Ich hätte Sie dort nicht unbedingt erwartet.

Alfred Gislason: Es war schon mein drittes Rammstein-Konzert. Und gemeinsam mit ,Kretzsche’ hat der Besuch riesigen Spaß gemacht.

© AS Sportfoto/ Binder

Hand aufs Herz: Ist es für Sie mit dem Konzertbesucher Kretzschmar einfacher als früher mit dem Spieler Kretzschmar?

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Gislason (lacht): Da muss ich nicht lange überlegen. Beim Konzert ist es deutlich leichter mit ihm. Aber ,Kretzsche’ hatte auch Phasen in seinem Leben, in denen er als Spieler sehr pflegeleicht war. Diese Zeiten gab es. Wirklich.

Hören Sie Rammstein auch zu Hause?

Gislason: Dort nicht unbedingt, aber zum Beispiel im Auto. Ich bin sehr flexibel, was das Thema Musik angeht. Härter als Rammstein darf es aber eher nicht sein.

Gibt es Gislason-Geistesblitze, wenn Sie Musik hören? Fallen Ihnen da neue taktische Varianten ein?

Gislason: Nein, das passiert nicht. Mir kommen die besten Ideen, wenn ich Rad fahre.

Aber in diesen Momenten haben Sie vermutlich nichts zum Aufschreiben dabei.

Gislason (zeigt auf seinen Kopf und lacht): Solche Dinge kann ich mir gut merken.

Ihre leider viel zu früh gestorbene Frau Kara hat mal gesagt, dass der Plan vorsah, zwei Jahre in Deutschland zu bleiben. Warum sind es nun mehr als zwei Jahrzehnte?

Gislason: Ich kann jetzt nicht behaupten, dass es von Anfang an so unglaublich gut lief. In meiner ersten Saison bin ich gleich mit Hameln abgestiegen (lacht).

Später ging es mit dem SC Magdeburg weiter.

Gislason: Und diese Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen. Zu diesem Zeitpunkt war eigentlich klar, dass das mehr als zwei Jahre werden. Zumal es dann wirklich immer besser und besser wurde.

Fühlen Sie sich mittlerweile als Deutscher?

Gislason: Wenn ich meine isländischen Freunde frage, sagen die, ich sei mehr Deutscher als Isländer.

Sie waren 20 Minuten früher beim Interviewtermin als vereinbart. Das ist typisch deutsch.

Gislason (lacht): Und Isländer sind furchtbar unpünktlich. Das mag ich nicht.

Also haben Ihre Freunde recht.

Gislason: Ich fühle mich Deutschland auf jeden Fall sehr verbunden und bewundere die Geschichte dieses Landes.

Sie singen die Nationalhymne mit. Warum machen Sie das?

Gislason: Ich singe die Hymne aus Respekt vor Deutschland, weil ich diese Nation vertreten darf. Ich bin Bundestrainer. Mir fällt es deshalb auch nicht schwer, die deutsche Nationalhymne zu singen.

Und wenn Sie mal gegen Island spielen sollten?

Gislason: Mmhhh … dann würde ich vermutlich beide singen.

Was kann der deutsche Handball vom isländischen Handball lernen? Die Nationalmannschaft Ihrer Heimat ist immer sehr erfolgreich, obwohl dort nur 350 000 Menschen leben.

Gislason (zieht die Augenbrauen hoch): 360 000.

Okay, 360 000. Das sind immer noch deutlich weniger als in Deutschland. Was machen die Isländer also besser?

Gislason: Deutschland ist eine große Sportnation, das steht außer Frage. Aber Deutschland ist vor allem eine große Fußballnation. Und diese Tendenz verstärkt sich seit zehn Jahren. Das Geld fließt vor allem in den Fußball. Und wenn ich nun den Vergleich zu meiner Heimat ziehe: Die Sportmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in Island sind nicht mit denen in Deutschland vergleichbar. Die Kommunen haben eine entsprechende Infrastruktur geschaffen. Es gibt ausreichend Trainingszeiten und qualifizierte Trainer. Schon in den Jugendmannschaften. Das ist in Deutschland bei einigen Clubs zwar der Fall, aber eben nicht in der Breite wie in Island.

Unabhängig von Corona: Sie sind kurz vor dem Start der Pandemie Bundestrainer geworden. Seitdem treten immer wieder Spieler aus dem Nationalteam zurück oder legen Pausen ein. Haben Sie es schon bereut, den Job übernommen zu haben?

Gislason: Bereut? Nein, das nicht. Mir bereitet der Job Freude. Ich habe mir meine Arbeit allerdings anders vorgestellt. Es ist unglaublich schwierig, etwas aufzubauen, wenn immer wieder wichtige Spieler wegbrechen und sie nicht mehr für die Nationalmannschaft zur Verfügung stehen, ich also ständig bei null anfangen muss. Andererseits verstehe ich die Jungs. Sie sehnen sich nach einem normalen Leben, wollen Zeit mit ihren Familien verbringen und nach zehn Jahren Bundesliga braucht der Körper eine Pause. Die Größe der Bundesliga ist mit Blick auf die Belastung ein Problem für die deutsche Nationalmannschaft.

Wenn Ihnen in Kiel ein Spieler weggebrochen ist, hat der Club einfach einen neuen Topmann geholt. Das geht als Bundestrainer nicht. Sie müssen mit dem arbeiten, was zur Verfügung steht.

Gislason: Und das ist auf manch einer Position gar nicht mal so viel. Ich suche Innenblockspieler. Und da gibt es in der Bundesliga wenige mit einem deutschen Pass. Da reden wir von vier, fünf Spielern. Und die sind teilweise in ihren Vereinen nicht erste Wahl. Andererseits: Ich war selbst viele Jahre lang Bundesligatrainer und weiß, dass jeder Club das Beste aus seinen Möglichkeiten machen will. Und da ist es sicherlich riskanter, mal einem jungen Deutschen eine Chance zu geben. In der Nationalmannschaft haben wir allerdings zuletzt junge deutsche Zweitligaspieler wie Julian Köster dazugenommen – und er hat überzeugt. Ich finde, die Clubs sollten ebenfalls mehr Mut haben, auch den jungen Deutschen mal eine Chance zu geben.

Alfred Gislason – der Titelsammler

  • Der Isländer Alfred Gislason ist 62 Jahre alt.
  • Erfolge als Trainer: Deutscher Meister 2001 (mit Magdeburg) sowie 2009, 2010, 2012, 2013, 2014 und 2015 (alle Titel mit Kiel); Deutscher Pokalsieger 2009, 2011, 2012, 2013, 2017 und 2019 (alle Titel mit Kiel); Champions-League-Sieger 2002 (mit Magdeburg), 2010 und 2012 (beide Titel mit Kiel).
  • Karriere als Nationaltrainer: Von 2006 bis 2008 betreute Gislason parallel zu seiner Arbeit als Club-Trainer die isländische Auswahl. Seit März 2020 ist er deutscher Bundestrainer.

Von Verletzungen einmal abgesehen: Glauben Sie, mit diesem Kader zumindest bis zur Heim-EM 2024 planen zu können?

Gislason: Ich gehe von keinen weiteren Rücktritten bis zur Heim-EM aus. Und ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Hendrik Pekeler noch einmal zurückkommt.

Mit Köster und Hendrik Wagner standen zuletzt Zweitligaspieler im Kader. Waren das zwei Ausnahmen?

Gislason: Nein, Spieler aus der 2. Liga sind immer eine Option. Dennoch ist es gut, dass Julian mit Gummersbach aufgestiegen ist und Hendrik Wagner künftig in Wetzlar in der 1. Liga spielt. Denn es ist ja auch vollkommen klar: Wenn wir bei einer WM oder EM etwas erreichen wollen, müssen wir vor allem Erstligaspieler im Kader haben. Das versteht sich von selbst.

Bis zur WM ist es nur noch ein halbes Jahr. Mehr als der Einzug in die Hauptrunde soll es doch sicherlich sein, oder?

Gislason: Darüber werden wir kurz vor dem Turnier sprechen. Wir haben eine sehr unerfahrene Mannschaft und gehören nicht zu den Medaillenfavoriten. Aber das bedeutet keinesfalls, dass wir das akzeptierten und dass es so bleiben soll. Der Fokus gilt aber 2024.

Fällt es Ihnen leichter, jungen Spielern Fehlern zu verzeihen?

Gislason: Nein, eigentlich nicht. Ich versuche, alle aus meiner Mannschaft gleich zu behandeln. Wenn ein junger Spieler hochgelobt wird, sage ich ihm auch schon mal unter vier Augen, dass das jetzt eigentlich gar nicht so gut war, was er da gemacht hat. Auch wenn andere das behaupten.

Sie sprechen von fehlender Erfahrung und wegbrechenden Leistungsträgern, was alles stimmt. Für die Heim-EM 2024 sind das keine guten Nachrichten. Kommt das Turnier zu früh?

Gislason: Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass wir 2024 um Medaillen spielen können. Aber letztendlich wird für unseren Erfolg bei der Heim-EM entscheidend sein, dass ich zuvor mehr Zeit bekomme, um mit meiner Mannschaft zu trainieren.

Ist das noch nicht sicher?

Gislason: Die Handball-Bundesliga und der Deutsche Handballbund sind dazu im Kontakt und suchen nach Lösungen. Nach heutigem Stand sieht es gut aus, dass ich im Vorfeld der Heim-EM mehr Zeit mit der Mannschaft bekomme. Und die brauche ich auch.

Stellen Sie sich Kurzlehrgänge mit einzelnen Spielern vor?

Gislason: Handball ist ein Mannschaftssport. Also macht so etwas auch nur Sinn, wenn ich meinen ganzen Kader zur Verfügung habe. Ich weiß, dass es mit den Terminen wegen der Größe der Bundesliga problematisch ist. Aber ich brauche mehr Zeit. Es geht hier um eine Heim-EM.

Freuen Sie sich eigentlich, dass viele skandinavische Topspieler die Liga verlassen? Da werden jetzt reichlich Kaderplätze für deutsche Talente frei …

Gislason: Bislang habe ich aber noch nicht gehört, dass irgendein Verein das so vorhat.

Nach dem Weggang von Andy Schmid setzen die Rhein-Neckar Löwen zumindest künftig auf Juri Knorr.

Gislason: Es wird spannend, wie sich die Löwen ohne Andy entwickeln. Er war mit seiner Spielweise sehr dominant. Ich glaube aber, dass sie in der nächsten Saison besser sein werden als in dieser. Von Juri war es vor einem Jahr ein mutiger Schritt. Er hat nun lehrreiche und entsprechend wichtige zwölf Monate hinter sich. In der kommenden Saison werden wir sehen, was Juri aus dieser Zeit mitgenommen hat. Er muss sich durchsetzen und hat auch in der Nationalmannschaft ziemlich große Konkurrenz.

Sie sind ein Freund des schnellen Handballs. Die erneute Änderung der Zeitspielregel müsste Sie also freuen. Künftig sind bei gehobenen Armen der Schiedsrichter nur noch vier Pässe erlaubt.

Gislason: Ich hoffe, dass es den gewünschten Effekt gibt und dass die Reaktion der Schiedsrichter auf diese Regeländerung jetzt nicht sein wird, dass es noch länger dauert, bis sie überhaupt den Arm heben. Das passierte schon, als die Regel mit den sechs Pässen eingeführt wurde. Es gibt Spieler, die können mit sechs Pässen gefühlt eine Viertelstunde von der Uhr nehmen (lacht). Das gefällt mir genauso wenig wie das Sieben gegen Sechs. Ich verstehe, warum das gemacht wurde. Aber das Spiel Sieben gegen Sechs nimmt dem Handball seine taktischen Feinheiten in der Abwehr. Es ist praktisch nicht möglich, für eine technisch saubere offensive Deckung belohnt zu werden. Ich finde, dass alle Regeländerungen in den vergangenen Jahren negativ für die Qualität des hochwertigen Handballs waren.

In einer Woche steht das Finalturnier um die Champions League an. Was trauen Sie Ihrem Ex-Club THW Kiel zu?

Gislason: Für Kiel wird es ohne die verletzten Hendrik Pekeler und Sander Sagosen extrem schwer. Mit den beiden Jungs hätte der THW eine gute Titelchance gehabt. Ohne diese zwei Spieler sind die Kieler krasser Außenseiter.

Redaktion Handball-Reporter, Rhein-Neckar Löwen und Nationalmannschaft

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