Doha. Oscar Lopez hat sich ein Ritual angewöhnt. Immer wenn der Ecuadorianer mit seiner Frau Maribel in Doha fotografiert wird, zieht er sich schnell noch seine gestrickte Maske auf. Rot, orange, gelb, grün und blau – welche Farbe kommt eigentlich nicht vor? Die bunte Kostümierung gehört zum Wesenskern der Abertausenden Anhänger, die „La Tri“, wie das Team genannt wird, nach Katar begleitet haben. Mit großer Leidenschaft und voller Inbrunst.
Der in London lebende Südamerikaner sagt, dass er sich diese WM unmöglich entgehen lassen konnte. 2018 war Ecuador nicht qualifiziert. „Wir spielen nicht so oft mit. Deshalb wollte ich unbedingt dabei sein.“ Würde er noch in der Heimat wohnen, hätte das Fan-Paket mit dem Flug aus Quito rund 20 000 Euro gekostet. Jetzt ist er mit ungefähr der Hälfte hingekommen, um zehn Tage dieses Turnier und fünf Spiele mitzuerleben.
Er schätzt, dass mindestens 20 000 Landsleute beim zweiten WM-Gruppenspiel gegen die Niederlande (1:1) dabei waren. Die „Oranjes“ hatten auf dem Rasen und den Rängen im Khalifa Stadium jedenfalls wenig zu melden. Anders als beim Auftakt gegen Katar (2:0) ersparte sich der Anhang aus Ecuador auch homophobe Schmähgesänge gegen Chile.
Wie wichtig dem Land mit seinen knapp 18 Millionen Einwohner diese WM ist, zeigt, dass Schulen und Universitäten am Tag des Niederlande-Spiels geschlossen blieben. Auch Schüler, Studenten und Lehrer sollten „zum Zugehörigkeitsgefühl, zur nationalen Einheit und zum ecuadorianischen Stolz beitragen“, hieß es. Während in Deutschland Millionen Menschen nicht einschalten, werden anderswo die Bürger angehalten, Fußball zu schauen.
Alkoholverbot stört nicht mehr
Wie schon bei der WM 2018 in Russland prägen die Südamerikaner auch in Katar das Erscheinungsbild. Ihnen ist kein Weg zu einer WM zu weit, kein Trip zu teuer. Unter den zehn Ländern mit den meisten Ticketbestellungen befanden sich erneut Mexiko, Argentinien und Brasilien.
Gefühlt fast die Hälfte der mehr als 88 000 Zuschauer im Lusail Stadium trug am Donnerstag bei Brasilien gegen Serbien (2:0) kanariengelbe Trikots. Am Samstag bei Argentinien gegen Mexiko (2:0) dominierten dann im imposanten Endspielstadion die Jerseys mit den drei hellblauen Längsstreifen – Erkennungszeichen der „Albiceleste“. Es ist allerdings ein Irrglaube, dass all diese Fans aus Südamerika kommen.
Das erzählt Sheikh Ferdous am Millennium Plaza, ein nettes Public-Viewing-Areal in Al-Sadd. Er steht dort gegen Mitternacht in seinem Argentinien-Trikot an einem Brunnen, trällert Lieder, zeigt seinen Schal – und sieht verdammt glücklich aus. Mit Argentinien, erklärt der in Bangladesch geborene, aber in Katar arbeitende Mann, verbindet ihn seit seiner Kindheit die Liebe und Bewunderung für Diego Maradona – und heute verehrt er Lionel Messi.
Man müsse sich mal umhören bei anderen Gastarbeitern aus Nepal, Pakistan oder seiner Heimat: „Ganz viele unterstützen Argentinien oder Brasilien.“ Was den riesigen Support vor Ort erklären würde.
Fast 100 000 Besucher sollen zuletzt zum Fanfestival in den Al-Bidda Park geströmt sein. Das weitgehend durchgesetzte Alkoholverbot scheint gar nicht mehr groß zu stören. Auch die Stadien füllen sich gut ohne Bierverkauf: Nach der ersten Phase der Gruppenspiele vermeldete die FIFA eine Auslastung der Stadionkapazitäten von 94 Prozent. Von den mehr als drei Millionen verkauften WM-Tickets gingen die meisten zwar an Staatsbürger von Katar, den USA und Saudi-Arabien, aber die Südamerikaner sorgen für die Stimmung.
Das Motto: Wenn die WM jetzt hier stattfindet, machen wir das Beste daraus. Die Gäste aus den Schwellenländern haben eine Grundhaltung mitgebracht, die Oscar Lopez so beschreibt: Er verschließe nicht den Augen vor der Kehrseite, habe viel über die Ausbeutung der Arbeitsmigranten gelesen, aber er möchte das hier nicht ansprechen, denn: „In Südamerika haben viele Menschen ihre eigenen Probleme mit der Regierung, mit der Korruption, mit der Zerrissenheit. Es steht uns einfach nicht zu, den Gastgeber zu belehren.“
Vorteil der kurzen Wege
Lopez hat in Katar viele Menschen anderer Kulturen getroffen. „Das bringt am meisten für die Verständigung.“ Die Komprimierung der WM auf eine Stadt und deren Umgebung ermögliche viele Kontakte. Der Trip in die Wüste, sagen er und seine Frau, habe sich auf jeden Fall gelohnt. Zurück in London wird dann weitergeschaut – natürlich das letzte Gruppenspiel von Ecuador am Dienstag gegen Senegal. Mit der bunten Maske versteht sich, die zu dieser Jahreszeit in England auch ganz nützlich sein kann.
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