Frankfurt. Nun hat auch der Turnierchef erfahren, was bereits vielen Besuchern dieser Fußball-Europameisterschaft passiert ist. Philipp Lahm ist bei der Anreise nach Düsseldorf von der Deutschen Bahn ausgebremst worden.
Der EM-Direktor sollte eigentlich am Freitagnachmittag vor der Partie Slowakei gegen die Ukraine bei RTL und MagentaTV vor der Kamera stehen. Stattdessen verriet Turnierbotschafterin Celia Sasic: „Er müsste irgendwo in der Nähe von Solingen hängen, also von daher drücken wir die Daumen.“
EM-Direktor Philipp Lahm leidet selbst unter Verspätungen der Deutschen Bahn während der Fußball-EM.
Hoffen und Bangen, um bei dieser EM von Hamburg nach Dortmund, von Frankfurt nach Berlin oder von München nach Düsseldorf zu kommen. Die Bahn hat halt ihre Tücken. Doch das ist nicht das einzige Problem.
Euro 2024: Größte Verkehrschaos bisher in Gelsenkirchen
Auch der öffentliche Nahverkehr, der die Fans von den Hauptbahnhöfen zu den Stadien und zurückbringen soll, ist oft überbelastet. Insbesondere nach den Spielen wirkt es verstörend, wie wenig Verkehrsmittel für den Abtransport der Menschenmassen bereitstehen. In Leipzig oder anderswo fuhren Straßenbahnen einfach nach Fahrplan – und ohne zusätzliche Wagen. Das größte Chaos entstand bislang in Gelsenkirchen beim ersten Gruppenspiel zwischen England und Serbien.
Die englische Fanorganisation „Free Lions“ kritisierte die zu geringen Kapazitäten, schlechtes Warteschlangenmanagement sowie schlechte Kommunikation und erhebliche Verzögerungen. In den Sozialen Medien verbreiteten sich unzählige Videos mit gespenstischen Szenen. „Überfüllt, verspätet, verärgert“, titelte danach die „Süddeutsche“ Zeitung. International reagierte die Presse mit Entsetzen.
Ich bin schockiert, wie alles funktioniert. Oder besser: nicht funktioniert. Es ist unglaublich. Vom Transport bis zu Sicherheitsfragen
Die renommierte „New York Times“ schrieb: „Vergessen Sie alles, was Sie über deutsche Effektivität denken.“ Der englische „Independent“ kritisierte: „Es ist nicht annähernd so gut organisiert, wie man es sich vorgestellt hat. Ewige Wartezeiten und Verspätungen.“
Auch „The Daily Telegraph” hielt fest: „Die meisten Engländer haben erwartet, dass es so reibungslos und perfekt ist, wie bei der WM 2006. Doch diese EM ist extrem schlecht organisiert, vor allem der Transport hin und zurück zu den Stadien.“ Und beim Sender „TV4“ aus Schweden sagte der Kommentator: „Ich bin schockiert, wie alles funktioniert. Oder besser: nicht funktioniert. Es ist unglaublich. Vom Transport bis zu Sicherheitsfragen.“
Ist die Euro 2024 in Deutschland zu schlecht organisiert?
International war die Erwartungshaltung an den vermeintlichen Organisationsweltmeister Deutschland eine andere. Dennoch hatte die Crew um den Schweizer Organisationschef Martin Kallen, die die wunderbar aufeinander abgestimmten Abläufe mit dem Transport in einer (!) Stadt während der WM 2022 in Katar unter die Lupe nahm, befürchtet, dass das nächste Turnier diesen Anspruch nicht würde erfüllen können. Interner Tenor: Wenn es in Deutschland mit dem Transport nur halb so gut läuft wie in den für viele Milliarden aus dem Wüstensand gestampften Metros von Doha, dann wäre schon viel gewonnen.

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Nun verliert Deutschland an Ansehen. Es läuft nicht alles schlecht, aber vieles eben nicht gut. Der Fußball fördert die Probleme der deutschen Infrastruktur auf Straße und Schiene wie unter einem Brennglas hervor. Durch die hohe Aufmerksamkeit der EM bekommt das jetzt auch der Letzte mit.
Dazu gesellen sich noch hausgemachte Probleme wie eine bisweilen schlechte Beschilderung, die für ausländische Gäste an einigen Stellen fast schon eine Zumutung ist. Menschliche Hinweisgeber wie in großer Zahl in Katar fehlen. Dort hatten die vielen Metro-Wegweiser mit ihren Sprechgesängen schnell Kultstatus erlangt. Die fahrerlosen Schnellzüge bewältigten den Ansturm problemlos.
Euro 2024 Gäste sind froh, wenn sie irgendwie ankommen
Und was sagen die deutschen Organisatoren? „Wenn es um den Einlass geht oder den Abtransport – es sind einfach viele Menschen“, sagte Lahm zuletzt im ARD-Morgenmagazin. „Es sollte jeder Verständnis haben, dass nicht alles perfekt funktioniert, wenn viele Menschen aufeinandertreffen oder irgendwo hinwollen.“
Alle Drähte für die Organisation laufen bei der EURO 2024 GmbH in Frankfurt zusammen, der es für ein abschließendes Urteil noch zu früh ist. Die Macher werben für eine differenzierte Betrachtung. „Das war von Beginn an klar, schon im Biding-Prozess, dass Gelsenkirchen eine harte Nuss wird“, sagte Geschäftsführer Andreas Schär im ZDF. „Wir haben ein großes Stadion, das in einer eigentlich zu kleinen Stadt steht. Ich glaube aber, wenn wir auf Schalke verzichtet hätten, alle hätten uns den Hals umgedreht.“
Deutsche Bahn hat während EM Bautätigkeit reduziert
Der Schweizer dürfte die Worte seines Landsmannes Pierluigi Tami, dem Sportdirektor des Schweizer Fußball-Verbandes noch im Ohr haben, der vor dem Startschuss in einer Pressekonferenz seine Hoffnung äußerte, auch die Deutsche Bahn möge bei der EM „ihre beste Leistung“ abrufen. Denn die Normalform ist von notorischen Störungen und Verspätungen geprägt. Im Mai kamen lediglich 63,1 Prozent der IC- und ICE-Züge der Bahn ohne größere Verzögerung ans Ziel. Die Bahn hatte für den Juni Besserung gelobt, „weil die DB ihre Bautätigkeit während der EM auf ein Minimum reduzieren wird“.
Vielfahrer wissen um die Unzuverlässigkeit, die aus einem überalterten Netz, personellen Engpässe und technischen Problemen resultieren. „Das deutsche Transportsystem, insbesondere die Deutsche Bahn, liefert, wie sie auch sonst liefert“, sagt Schär. „Wir haben alle Probleme vorher gekannt und sie sind immer noch da, die sind nicht einfach weg.“ Offenbar haben es in Stuttgart zuletzt auch DFB-Präsidiumsmitglieder mit VIP-Status wegen der Logistik nicht rechtzeitig ins Stadion beim zweiten deutschen Spiel geschafft.
Der Transportsektor wird deshalb so genau betrachtet, weil er eine Schlüsselrolle spielen sollte, neue Maßstäbe für solch ein Großereignis zu setzen. In den Leitlinien heißt es: „Um Maßnahmen für soziale und ökologische Nachhaltigkeit voranzutreiben, möchte die EURO 2024 mit gutem Beispiel vorangehen“. Fans, Fußballer und Funktionäre sollen explizit die öffentlichen Transportmittel nutzen. Parkflächen für Autos wurden weitgehend gesperrt oder kostenpflichtig gemacht. Die Vision: „Vorbild für Nachhaltigkeit von Veranstaltungen in der Welt des Sports und Impulsgeber für eine nachhaltige Entwicklung der deutschen und europäischen Gesellschaft sein.“ Die Realität: Mitunter sind die Stadiongäste einfach froh, wenn sie angekommen sind. Irgendwie, irgendwann.
Versagen mit Ansage? Für die EM sei „nichts passiert“, heißt es
Kritiker sagen: Die Bundesregierung hatte nie vor, wegen dieses Turniers in die marode Infrastruktur zu investieren. Es habe fast die Haltung geherrscht, die Probleme zu ignorieren. Die verkehrstechnischen Engpässe in Europas größter Volkswirtschaft sind nicht neu. Die 2018 gegründete Autobahn GmbH – zuständig für Planung, Bau, Betrieb, Erhaltung und Finanzierung der deutschen Autobahnen – sah sich gar nicht in der Lage, Bauprojekte wegen dieses Events zu beschleunigen. Der zweite EURO-Geschäftsführer Markus Stenger konstatierte in diesem Zusammenhang mit fast ironischem Unterton, „dass für eine Fußball-EM keine Wunder passieren“. Und auf der Schiene sind die Defizite ohnehin nicht auf die Schnelle zu beheben.
„Dass es nicht vorangeht, ist kein Zufall“, sagt ein Insider, der täglich mit den zuständigen Stellen zu tun hat. Für die EM sei „nichts passiert, dabei wäre ein Impuls durch Investitionen dringend nötig gewesen.“ Was bei dem Turnier jetzt geschehe, sei im Grunde ein Versagen mit Ansage. Gerade sickerte durch, dass das Bundesverkehrsministerium die Haushaltsmittel für die Autobahn GmbH um 20 Prozent kürzen will. Mehrere Verbände setzten am Donnerstag einen Brandbrief auf und warnten vor einem Verkehrskollaps in Deutschland. Dann, wenn der Ball bei der Europameisterschaft längst nicht mehr rollt.
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