Doha. Nicht einmal Wladimir Putin würde von sich behaupten, moralisch verkommen zu sein und dem Schlechten zu frönen. Es ist davon auszugehen, dass jeder Mensch, der sich in einem geistig gesunden Zustand befindet, denkt, sein Leben bestmöglich entlang gesellschaftlicher Wertvorstellungen zu führen. Gianni Infantino darf als gesunder Mann gelten – auch wenn er vor wenigen Tagen Opfer einer schizophrenen Episode wurde, als er sich gleichzeitig schwul, behindert, arabisch, katarisch, afrikanisch und als Gastarbeiter fühlte. Und nicht zu vergessen: Als Frau fühlte er sich auch. Sagte er zumindest bei seiner Pressekonferenz zur Eröffnung der Weltmeisterschaft in Katar.
Schon zuvor galt der Schweizer den deutschen Fußballfans als das personifizierte Böse. Spätestens seit dieser WM sind sich viele Fans sicher.
Selbstinszenierung der Kindheit
Wie Fremd- und Eigenwahrnehmung doch auseinandergehen können. Infantino selbst nämlich sieht sich als Förderer des Sports. Als jener, der es künftig auch kleineren Staaten ermöglicht, bei einer WM mitzumachen. Nun begünstigt jedoch schon das Format mit 32 Teams, dass Mittelklasseteams teilnehmen dürfen. Bei 48 Mannschaften – wie es bei der WM 2026 der Fall sein wird – ist der kulturelle Austausch aber natürlich noch größer. Um nichts anderes geht es. Ganz vielleicht noch darum, sich die Stimmen der kleineren Staaten bei der nächsten FIFA-Präsidentenwahl zu sichern. Wer Gutes erreichen will, muss Kompromisse eingehen.
Als Mann der Kompromisse ist Infantino bekannt. So ließ er zwar verbieten, dass einige europäische Mannschaften bei der WM mit der „One Love“-Binde spielen, zeigte aber auf der Ehrentribüne fröhlich auf besagte Binde, die sich am Arm der deutschen Innenministerin Nancy Faeser befand.
Infantino weiß sich zu inszenieren. Wer mit Qatar Airways fliegt, kann in einem Werbevideo für die WM sehen, wie Infantino als Bub dem Ball hinterherläuft. Wie ein rothaariger Junge des FC Brig-Glis sichtbar Spaß hat. Die Macht des Fußballs. Weil, eigentlich war der kleine Gianni ein recht unglückliches Kind. Wegen seiner roten Haare und der Sommersprossen wurde er von seinen Klassenkameraden gehänselt, erzählte er bei der „Schwularabischfrau“-Pressekonferenz. Auch deswegen könne er verstehen, wie es sich anfühle, diskriminiert zu werden.
Selbstredend habe er auch als Bub das ein oder andere Fenster kaputt geschossen. Da muss der reife Gianni über den kleinen Strolch Gianni lachen. Der konnte zwar nicht sonderlich feinfühlig mit dem Ball umgehen, war aber ein begnadeter Organisator, weshalb er sich bald vom aktiven Sport zurückzog und für seinen Heimatverein Ferienfahrten koordinierte.
Vom Helfer eines Fünftligisten arbeitete er sich bis an die Spitze des Weltfußballs empor. Derartige Aufstiege gehen immer mit Enttäuschungen und Verlusten einher. Meistens bei denen, die den Aufstieg nicht geschafft haben. So ist Michel Platini nicht sonderlich gut auf seinen alten Weggefährten zu sprechen. Der Franzose stand schon als Nachfolger von FIFA-Boss Sepp Blatter fest, ehe die Schweizer Bundesanwaltschaft wegen der nachträglichen Millionenzahlung eines Beratervertrages gegen beide ermittelte. Chef der Bundesanwaltschaft war damals Michael Lauber, der sich erwiesenermaßen mehrfach mit Infantino getroffen hatte.
Fest verankert in Katar
Platini konnte wegen der Ermittlungen nicht zur Wahl antreten. Der Weg für Infantino war frei. Zuvor war er als UEFA-Generalsekretär lediglich öffentlich aufgefallen, wenn er die Kugeln bei der Champions-League-Auslosung aus dem Kelch fischte. Schon damals galt er aber als begnadeter Netzwerker. Zudem besitzt der Schweizer einen scharfen Verstand und spricht Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch und Arabisch.
Im März tritt Infantino zur Wiederwahl als FIFA-Präsident an. Einige europäische Verbände wie der deutsche versagen ihm zwar die Gefolgschaft – das aber ist Infantino reichlich egal. Denn der hat Europa den Rücken gekehrt – geografisch und machtpolitisch. Zwei seiner Töchter sollen in Doha eingeschult worden sein. Er verbringt zumindest die Hälfte seiner Zeit in Katar. Auch wenn gerade keine WM läuft – die beste aller Zeiten, wie er schon vorher wusste.
Die notwendigen Stimmen für seine Wahl erhält Infantino aus Afrika, Asien und Südamerika. Bei seiner ersten Wahl warb er damit, die Entwicklungshilfe-Zahlungen an die Verbände zu verdoppeln. Ein Argument, das auch heute noch nicht seinen Reiz verloren hat. So wird Infantino den Weltfußball noch weitere Jahre an entscheidender Stelle beeinflussen.
Ein Kind italienischer Gastarbeiter, das später als Rechtsanwalt arbeitete. Der rotgeschopfte Hänfling, der von seinen beiden älteren Schwestern „Piccolo“ – der Kleine – gerufen wurde, ist zum mächtigsten Mann im Weltfußball geworden.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/sport/fussball_artikel,-fussball-aufstieg-des-gianni-infantino-piccolos-weg-an-die-fifa-spitze-_arid,2022715.html