Mindestens drei schwere Fehler führten in der Justizvollzugsantalt Leipzig-Meusdorf dazu, dass der Selbstmord des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr nicht verhindert wurde. Konsequenzen zieht Sachsens Staatsregierung trotzdem nicht - noch.
Die Debatte über seinen möglichen Rücktritt war schon mehrere Stunden in Gang, als Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) gestern vor die Presse trat. Ruhig, fast stoisch, machte der 38-jährige Minister gleich zu Anfang klar, dass er keinen Grund zum Rücktritt sieht. "Dieser Fehler hätte nicht passieren dürfen", sagte er. Und erteilte dann das Wort dem Mann, in dessen Gefängnis dieser Fehler gemacht wurde, der zum Tod des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr am Mittwochabend führte.
Es waren sogar mehrere Fehler, da konnte der Leiter der U-Haft-Anstalt Leipzig-Meusdorf nichts beschönigen. Gegen 19.45 Uhr fand eine Wachfrau bei ihrem Rundgang den 22-jährigen Syrer tot in seiner Zelle, erklärte Rolf Jacob. Mit seinem T-Shirt hatte er sich an einem Gitter in seiner Zelle erhängt. Alle halbe Stunde sollten die Beamten bei dem "hochkarätigen Gefangenen" reinschauen. Die Wachfrau, eine Justizvollzugsanwärterin, kam sogar außerplanmäßig eine Viertelstunde früher, wohl "aus Dienstbeflissenheit", sagte Jacob mit einem schwachen, entschuldigenden Lächeln.
Die junge Frau tat mehr, als vorgeschrieben war. Da war sie aber wohl die Einzige. Denn ansonsten ging erschreckend viel schief in der JVA. "Leider haben sich die Prognosen der beteiligten Fachleute nicht bestätigt, so dass es zu diesem Ereignis gekommen ist", fasste der Minister zusammen. Einfach Pech will der Anstaltsleiter Jacob nicht so stehenlassen. Er frage sich schon: "Waren wir nicht doch ein bisschen zu gutgläubig?"
Falsch lag die Psychologin, die Al-Bakr nach dessen Einlieferung am Montag untersuchte. Sie traf ihn als ruhig, zurückhaltend und "durchaus interessiert" an und kam zu dem Schluss, dass keine unmittelbare Suizidgefahr vorliege. Der Gefangene habe "zu keinem Zeitpunkt nicht unter Kontrolle" gestanden, sagte der Anstaltsleiter. Zunächst wurde der Gefangene alle 15 Minuten in seiner Zelle kontrolliert. Nach dem Befund der Psychologin einigte man sich auf 30 Minuten.
Ein weiterer gravierender Fehler war, dass sie Al-Bakrs Suizidversuche nicht als solche erkannten. Die Deckenlampe in der Zelle hing am Dienstagabend unten, der Gefangene hatte sie wohl herausgerissen. Die Beamten führten das aber auf Zerstörungswut zurück, die bei Neuankömmlingen nicht so selten sei, sagte Jacob. Der Vorfall hatte aber "keine Auswirkungen auf das weitere Kontrollregime".
Herausgerissene Steckdose
Eine ebenfalls herausgerissene Steckdose bemerkten sie erst am Mittwochmorgen, als der Gefangene duschen war. Erst stellte man den Strom ab, dann wurde die Steckdose repariert. Al-Bakr nahm sich zwar in einer ordnungsgemäß elektrifizierten Zelle das Leben - indes, nicht durch einen Stromschlag.
Seine Kleidung war ihm bei Einlieferung abgenommen worden, als übliche Schutzmaßnahme auch gegen Suizidversuche. So soll verhindert werden, dass die Gefangenen Suizidmittel bei sich tragen. Stattdessen bekam er die aus Jogginghose und T-Shirt bestehende Anstaltskleidung. Das Shirt zerriss er, um sich damit zu strangulieren.
Eine halbe Stunde versuchte der medizinische Bereitschaftsdienst der Einrichtung, den leblosen Mann zu reanimieren. Die Versuche blieben "leider erfolglos". Als nur noch der Tod festgestellt werden konnte, wurden Polizei, Staatsanwaltschaft und Rechtsmedizin hinzugerufen. "Wir gehen sämtlichen Hinweisen nach", sagte der Dresdner Generalstaatsanwalt Klaus Fleischmann. Dafür wurde der Leichnam gestern obduziert, Ergebnisse liegen noch nicht vor.
Warum ein verhinderter mutmaßlicher Selbstmordattentäter im Gefängnis als nicht selbstmordgefährdet eingestuft wird - darauf hatten gestern weder Minister noch Gefängnisleiter eine Antwort. Offenbar bewerteten die Experten in der JVA die Gefahr, die der Gefangene für andere bedeuten könnte, höher als die Gefahr für sein eigenes Leben. Man rechnete damit, dass er Mithäftlinge und Wachleute angreift, deshalb kam er in einen Haftraum mit einem Zwischengitter, das ihn von der Zellentür trennte.
Die Gefängnisleitung verzichtete aber darauf, ihn in einen besonders gesicherten Haftraum zu verlegen. Ein weiterer Fehler, denn ein solcher Raum hätte die Suizidmöglichkeiten gegen Null verringert. Insgesamt sei die Unterbringung des Gefangenen ein "Spagat" gewesen zwischen dem Schutz der anderen vor ihm und dem Schutz seiner selbst, räumte Lucas ein.
Die Leipziger JVA mit angeschlossenem Haftkrankenhaus ist die zweitgrößte Anstalt in Sachsen. Zehn Hektar groß ist die Anlage am südlichen Rand der Stadt, mit 400 Haftplätzen ist das Haus mittelgroß im Bundesvergleich. Hier sitzen mehrheitlich Männer ein, die sich in Untersuchungshaft befinden. Die meisten von ihnen sind jung, ein Drittel davon sind Ausländer.
Mitte August besuchte Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) das Gefängnis, lobte die Arbeit der Beamten und versprach mehr Personal. 50 zusätzliche Justizvollzugsbeamte für Sachsens Gefängnisse sind Teil eines Sicherheitspakets, das die CDU-SPD-Regierung beschlossen hat.
Verkürztes Aufnahmegespräch
Dass bei der Einlieferung des Gefangenen kein Dolmetscher anwesend war, sei nicht unüblich gewesen. Die JVA hat keine Übersetzer, denn dafür fehlen Personalstellen und sprachkundige Fachleute. Ein ordentliches Aufnahmegespräch konnte deshalb mit Al-Bakr nicht geführt werden, es musste kurz ausfallen. Den Anstaltsleiter bekam Al-Bakr nicht zu Gesicht. Rolf Jacob war bis Mittwochabend in Urlaub.
Gestern teilte Tillich nur knapp mit, dass er die "pauschale Kritik an der sächsischen Justiz, ohne die Vorgänge genau zu kennen", entschieden zurückweise. Seinem Justizminister sprach der Regierungschef das Vertrauen aus, der Gefängnisleitung nicht.
Chronologie der Tage
- Montag, 15.35 Uhr: Ein Spezialeinsatzkommando der Polizei bringt Al-Bakr in die Justizvollzugsanstalt Leipzig. Al-Bakr verweigert Nahrung. Weil der 22-Jährige als gefährlich gilt und die Ermittlungsrichterin auf die Gefahr der Selbsttötung hinweist, kommt er in eine Einzelzelle und wird alle 15 Minuten kontrolliert.
- Dienstag, 9.45 Uhr: ärztliche Aufnahme. 10 Uhr: Gespräch mit Pflichtverteidiger Alexander Hübner, anschließend Gespräch einer Psychologin mit Al-Bakr, beide Male mit Dolmetscher. Die Psychologin sieht keine akute Selbstmordgefahr, hat aber keine Erfahrung mit Terroristen. 14 Uhr: Eine Teamsitzung bestätigt die Einschätzung. Al-Bakr wird dem Vorschlag der Psychologin folgend nur noch alle 30 Minuten kontrolliert. 17.50 Uhr: Al-Bakr meldet eine heruntergefallene Deckenlampe - die Bediensteten gehen von Vandalismus aus.
- Mittwoch, 10 Uhr: Während Al-Bakr duscht, wird die Zelle kontrolliert. Dabei wird festgestellt, dass eine Steckdose manipuliert ist. Nachmittags wird die Elektrik repariert. 19.30 Uhr: reguläre Kontrolle. 19.45 Uhr: Eine Justizvollzugsanwärterin kontrolliert ausnahmsweise schon nach 15 Minuten. Sie findet Al-Bakr stranguliert mit seinem T-Shirt am Innengitter der Zelle und löst Alarm aus. (dpa)
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