Dresden/Karlsruhe. Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) drückt es freundlich aus. Er sagt, er wolle ja nicht mehr als das, was 1992 beschlossen worden ist. Der Rechtsanwalt und Linken-Landtagsabgeordnete Klaus Bartl wird schon deutlicher. Es könne nicht sein, dass der Adel der Richterschaft bei einer solchen Sache mit Tricks und Winkelzügen ausweicht. Der Ärger richtet sich gen Karlsruhe. Denn dort, am Bundesgerichtshof (BGH), will man sich nicht an ein Versprechen erinnern, das der Bund vor mehr als 24 Jahren gegeben hat.
Werden an Deutschlands oberstem Gericht neue Strafsenate eingerichtet, dann müssen die nach Leipzig ziehen, so hat es 1992 der Bundestag beschlossen (Rutschklausel). Um dem Osten auf die Beine zu helfen, sollten Bundesbehörden in den neuen Ländern installiert werden. Seitdem sitzen in Leipzig das Bundesverwaltungsgericht und der 5. Strafsenat des BGH nebst einer Dienststelle des Generalbundesanwaltes. Weitere Strafsenate sollten folgen. Das ist bis heute nicht geschehen. Für Minister Gemkow ist das auch eine Frage der Gerechtigkeit zwischen West und Ost. Es reiche eben nicht aus, aus dem Westen immer nur den Finger zu heben und zu sagen: Ihr seid keine guten Staatsbürger, meint der 38-jährige Minister. Gegen das im Osten verbreitete Gefühl, abgehängt zu sein, könne auch der Bund etwas tun: durch die Anwesenheit von Behörden.
Nebenstelle Leipzig
Der CDU-Justizminister fordert weitere Strafsenate für seine Heimatstadt. Leipzig war wichtigster Gerichtsstandort des Deutschen Reichs. Mit Ausnahme des Finanzhofs saßen dort alle obersten Gerichte. Nach der Wende war der Ehrgeiz der Sachsen groß, Leipzig wieder zur Residenz des Rechts zu machen. Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) wollte gleich den ganzen BGH nach Leipzig holen nach dem Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung". Heraus kam 1992 immerhin die Aussicht, Leipzig als Nebenstelle zu etablieren.
Zahl der Verfahren steigt stetig
Dafür wäre es jetzt an der Zeit. Denn Deutschlands oberster Gerichtshof in Karlsruhe platzt aus allen Nähten. Die Zahl der anhängigen Verfahren an den zwölf Zivilsenaten und fünf Strafsenaten steigt stetig. Mehr als 6000 Verfahren gehen pro Jahr neu ein. Trotzdem sieht Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) keine Notwendigkeit für einen Zubau. Der BGH habe bisher keine neuen Senate erhalten, sagt eine Sprecherin des Bundesministeriums auf Anfrage. Demnach stelle sich die Frage nach der Verlegung weiterer Strafsenate nach Leipzig derzeit nicht.
Der Linke Bartl nennt das einen Trick: Statt der längst überfälligen Neubildung weiterer Zivilsenate wurden die vorhandenen Zivilsenate schwunghaft personell vergrößert. Denn wenn kein neuer Senat aufgemacht wird, muss keiner nach Leipzig verlegt werden, muss kein Bundesrichter in den Osten ziehen. Man kenne das ja, sagt Bartl. Schon als es Anfang der 90er Jahre um den Umzug des 5. Strafsenats von Berlin nach Leipzig ging, hätten sich die Herrschaften geziert. Erst als man ihnen ein schönes Nest gebaut hat, konnten sie sich langsam damit anfreunden. Die Außenstelle mit 20 Mitarbeitern, 500 Kilometer weit im Osten, stand bei der Hausleitung in Karlsruhe schon öfter auf der Kippe. Der Vorgänger der derzeitigen Präsidentin Bettina Limperg, Klaus Tolksdorf, wollte den 5. Senat nach Karlsruhe zurückholen. Stattdessen einen weiteren Senat nach Leipzig abzugeben, dafür sah Tolksdorf keinen Grund.
Der Richteradel bleibt lieber, wo er ist. Wenn es die Rutschklausel nicht gebe, sagt Klaus Bartl, hätten die längst Senate aufgemacht. Das hält auch die CDU-Bundestagsabgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker für dringend. Der Zubau von Senaten, sagt sie, dürfe nicht weiter wegen der Rutschklausel blockiert werden. Derzeit säßen zu viele Beisitzer in den Senaten, gleichzeitig hätten die Vorsitzenden zu viel Arbeit. Die Abgeordnete und Juristin ist überzeugt, dass in Leipzig gute Arbeitsbedingungen für einen weiteren Strafsenat, einschließlich der zugehörigen Abteilung der Bundesgeneralanwaltschaft gegeben wären.
Beneidenswerte Zuwachsraten
Obendrein ist Leipzig ein attraktiver Arbeitsort. Die Stadt mit knapp 600 000 Einwohnern ist keine zerschossene Altbauhalde mehr, sondern wieder eine Metropole mit beneidenswerten Zuwachsraten. Im Schnitt 10 000 Bürger kommen pro Jahr dazu. Die meisten sind jung und schätzen das kostengünstige Wohnen in sanierten Gründerzeitquartieren.
Wieso also in Karlsruhe sitzen, statt in einer der spannendsten Städte Deutschlands, fragt Justizminister Gemkow.
Umzug von Verwaltungen
Eine Föderalismuskommission sollte 1992 sicherstellen, dass jedes der neuen Länder eine Einrichtung von bundesweiter Bedeutung erhält.
Das zielte auch darauf ab, im strukturschwachen Osten konjunkturunabhängige Arbeitsplätze zu schaffen, wie es eben nur der öffentliche Sektor kann.
Das war als Hilfsmaßnahme unerlässlich in den Jahren nach der Wende, als reihenweise Kombinate schlossen und die Schlangen in den Arbeitsämtern länger wurden.
Von den obersten Gerichten, die vormals fast alle in Leipzig saßen, ist nur eines zurückgekommen. ck
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/politik_artikel,-politik-sachsen-greift-nach-dem-bundesgerichtshof-_arid,1012739.html