Vorschlag bei Kultusministerkonferenz

Pro und Kontra: Schüleraustausch zwischen Ost und West?

Von 
Martin Geiger und Julia Wadle
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Bautzen statt Barcelona? Auch knapp drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung streitet Deutschland noch über Ost-West-Probleme. Der Präsident der Kultusministerkonferenz, Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke), schlägt jetzt einen Schüleraustausch zwischen Ost- und Westdeutschland vor. Er will damit den Dialog fördern. Zwei Redakteure dieser Zeitung beziehen in einem Pro und Kontra Stellung zu der Diskussion.

PRO:

Von unserem Redaktionsmitglied

Julia Wadle

Jeder Schüler und der überwiegende Teil der Studenten und Auszubildenden kennt das geteilte Deutschland nur noch aus Erzählungen. Selbstverständlich lernen schon Grundschüler 16 Bundesländer auswendig – ohne die Unterscheidung in „alte“ und „neue“ Länder. Doch die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebauten Vorurteile wirken noch heute auf die Nachwende-Kinder: „Wessis“, die den Soli verdammen, Sächsisch nachäffen und außer in Berlin noch nie im Osten waren, lachen über die FKK-„Ossis“, die ihren Kindern komische Namen geben und sich immer benachteiligt fühlen. Vorurteile wie diese lassen sich am besten durch persönliche Kontakte überwinden – weswegen ein Schüleraustausch zwischen Ost und West sinnvoll wäre.

Bei einer solchen Fahrt nach Frankreich geht es ja beispielsweise auch nicht darum, perfekt Französisch zu lernen, sondern um die Erkenntnis: Grundsätzlich sind wir uns ziemlich ähnlich. Die Schüler in Ost- und Westdeutschland hören die gleiche Musik, mögen keinen Rosenkohl und schreiben morgens im Bus Hausaufgaben ab. Das Zerrbild des typischen „Ossis“, das Verwandte und einschlägige Bücher zeichnen, verschwindet gegenüber den Personen, die man beim Austausch kennenlernt. Gerade der Alltag in einer Gastfamilie verdeutlicht die Gemeinsamkeiten besser als jeder Lehrer und jedes Museum.

Ein klassischer Unterrichtsbesuch wäre bei einem Ost-West-Austausch allerdings wenig sinnvoll. Ein gemeinsames Projekt zur Geschichte des geteilten Deutschlands könnte Jugendlichen das Thema lebensnah näherbringen: Eltern, die in der DDR aufgewachsen sind, erzählen ihren Kindern andere Geschichte als diejenigen aus dem Westen. Durch eine Auseinandersetzung mit diesen Familiengeschichten wird die Vergangenheit erfahrbar, und ein gegenseitiges Verständnis kann sich entwickeln. Nur so können langfristig Vorurteile überwunden werden.

KONTRA:

Von unserem Redaktionsmitglied

Martin Geiger

Reisen ist immer gut, reden auch. Reisen bildet, schafft neue Eindrücke, ist ein Gewinn. Miteinander reden hat auch noch nie geschadet. Aber deshalb alle Schüler zwischen West- und Ostdeutschland hin- und herzuschicken, das geht trotzdem zu weit – 28 Jahre nach der Einheit.

Vor 20, 25 Jahren wäre das vielleicht sinnvoll gewesen. Aber 2018? Nur zur Erinnerung: Die Mädchen und Jungen, die heutzutage die Schulen besuchen, wurden zwischen 2000 und 2012 geboren. Was sollen sie ihren Austauschpartnern vermitteln? Erinnerungen an das Leben in der DDR? Wie die Soziale Marktwirtschaft funktioniert?

Natürlich gibt es noch immer Unterschiede zwischen Ost und West. Aber zwischen Rhein- und Emsland, zwischen Oden- und Teutoburger Wald ist das genauso, zwischen Bayern und dem Rest der Welt sowieso. Trotzdem fahren die Schüler nicht auf Exkursionen in die Oberpfalz. Es wird nie gelingen, diese Unterschiede aufzuheben. Das muss es aber auch nicht. Es müssen ähnliche Lebensverhältnisse herrschen: Dafür braucht es aber keinen Austausch; sondern einerseits wieder mehr Investitionen in die Infrastruktur; und andererseits Jobs, Jobs, Jobs.

Was ist denn der Sinn eines Schüleraustauschs? Dass Jugendliche andere Kulturen kennenlernen. Also sollten sie lieber dahin gehen, wo es wirklich andere Mentalitäten gibt – die man aber kennen muss, um die moderne Welt zu verstehen: nach Osteuropa, China, in die USA oder den Nahen Osten. Wo sie zugleich erleben, wie gut es uns – trotz allem Gejammere – eigentlich geht!

Je länger die Deutschen zwischen West und Ost unterscheiden, desto mehr zementieren sie eine Grenze, die es längst nicht mehr gibt. Hört auf mit dem „Wir“ und „Die“. Die Zukunft gehört dem „Uns“. Die Mauer ist weg. Die im Kopf muss auch fallen. Und das geht besser ohne Schüleraustausch, der letztlich eines ist: ein Vorschlag alter Männer, mit alten Bildern im Kopf.

Redaktion Reporter für das Ressort "Mannheim".

Redaktion Projektredakteurin Digitales und Innovation

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