Mannheim. Frau Römmele, von Olaf Scholz stammt der Satz: Wer bei mir Führung bestellt, kriegt sie auch. Hat er dieses Versprechen eingelöst?
Andrea Römmele: Teils, teils. Am Anfang seiner Kanzlerschaft hat Olaf Scholz den Betrieb zu lange einfach laufen lassen. Das waren Wochen, ja sogar Monate. Das geht natürlich nicht. Führung in einem Ampelbündnis mit zwei Juniorpartnern quasi auf Augenhöhe ist allerdings sehr herausfordernd.
Scholz muss die Koalition zusammenhalten, die ja ein bunter Haufen ist, und dabei die Richtung vorgeben. Und er muss auch eine Führungspersönlichkeit darstellen, denn die Wählerinnen und Wähler haben ihn zum Kanzler gemacht, weil sie ihm diese Kompetenz zusprechen.
Ich dachte, der Mindestlohn habe eine besonders große Rolle beim Wahlsieg der SPD gespielt.
Römmele: Das stimmt nicht. Die Grünen und die FDP sind wegen ihrer Themen gewählt worden, aber nicht die SPD. Sie hat wegen Scholz und seiner wahrgenommenen Führungskompetenz gewonnen. Deshalb muss er diesen Führungsanspruch als Kanzler einlösen. Und dann stellt sich die große Frage: Wer ist denn die Führungspersönlichkeit in Europa, seit Angela Merkel weg ist? Tritt Scholz in ihre Fußstapfen oder ist es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron?
Fragen über Fragen. Ich hätte auch noch eine: Hat das Gezerre um die diversen Entlastungspakete nicht bewiesen, wie schwierig es ist, in einer Dreier-Koalition gemeinsame Lösungen zu finden?
Römmele: Ja, es ist in der Tat schwierig, weil es in dem Bündnis viele rote Linien gibt, die die Parteien vorgeben. Das ändert nichts daran, dass Scholz seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs zu wenig in Erscheinung getreten ist. Das ist schlecht, denn Führung funktioniert nicht ohne Kommunikation und Dialog. Gerade in der Politik ist das von enormer Bedeutung.
Scholz zauderte oft. Erst wollte er nicht in die Ukraine reisen, dann aber doch.
Römmele: Ich will da jetzt nicht darauf herumreiten. Ich finde ohnehin, dass nicht jeder in die Ukraine reisen muss. Klar ist aber: Die Kommunikation muss aktiv und nachhaltig sein. Da war Scholz anfangs eher schlecht. Ich habe aber seit einigen Wochen den Eindruck, dass er das jetzt selbst begriffen hat. Der Kanzler macht mehr Interviews, geht öfter ins Fernsehen, ist dialogiger. Aber keiner erwartet von ihm, dass er ständig Briefings abhält und dauernd das Tagesgeschäft kommentiert.
Muss er ja nicht, der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik, also das großen Ganze. Für das Tagesgeschäft sind die Ministerinnen und Minister zuständig.
Römmele: Genau. Scholz muss aber trotzdem die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Vor allem jetzt, da doch alle Angst vor dem Winter haben. Da ist politische Führung zentral. Für Scholz kommt erschwerend hinzu, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrer Kommunikation in der Öffentlichkeit frischer wirken. Das ist ja auch eine ganz andere Generation. Der Kanzler ist schon ewig in der Politik. Und im Prinzip ist er Merkel 2.0. Deshalb kann Scholz die beiden auch nicht kopieren und bleibt auf seine Art authentisch.
Er ist halt, wie er ist.
Römmele: Richtig. Er soll sich deshalb auch nicht verstellen. Ein Problem könnte dagegen Finanzminister Christian Lindner bekommen.
Wegen der Schuldenbremse?
Römmele: Ja, er hält am Mantra fest, dass sie im nächsten Jahr wieder angewendet werden soll. Denn im Wahlkampf hat er das ja seinen FDP-Anhängern versprochen.
Andrea Römmele
- Andrea Römmele wurde am 22. März 1967 in Stuttgart geboren.
- Sie studierte Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg und der University of California in Berkeley.
- Römmele arbeitete viele Jahre am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES).
- Seit 2010 ist Römmele – nach einem Zwischenstopp an der privaten Hochschule Bruchsal – Professorin für politische Kommunikation an der Hertie School in Berlin. Ihr privater Lebensmittelpunkt ist Mannheim.
Wie lange kann Christian Lindner das durchhalten? Alle in der Bundesregierung haben sich bewegt: Für die SPD ist ihr Weltbild von den lieben Freunden in Russland zerbrochen, die Grünen schalten die Atomkraftwerke noch nicht ab. Aber die FDP sagt immer: Nein.
Römmele: Lindner ist die Opposition in der Regierung. Er ist panisch, weil er in diesem Jahr die Landtagswahlen verloren hat. Die FDP hat brutalen Gegenwind und muss schauen, dass ihr die Felle nicht wegschwimmen. Die Machtstatik in der Koalition hat sich enorm verschoben, weil die Grünen ohne Ende glänzen. Habeck ist nicht nur in der Bevölkerung populär, seine Werte sind im eigenen Lager sogar besser, obwohl er Dinge macht, die seinen Anhängern nicht gefallen können. Zum Beispiel Flüssiggas bei den Scheichs in Katar kaufen.
Noch mal: Muss Lindner sein Schuldenbremsen-Mantra nicht endlich stoppen oder würde er sich da mit Blick auf die Umfragen sein eigenes Grab schaufeln?
Römmele: Was heißt denn Führung? Bestimmt nicht, das zu machen, was in den Umfragen populär ist. Führung heißt, Dinge zu machen, die die Leute am Ende des Tages gutfinden. Das kann auch für die Schuldenbremse gelten.
Die Leute sagen dann: Super, das wollten wir schon immer so haben – obwohl es gar nicht stimmt.
Römmele: Klar. Manchmal muss ich auch mal etwas gegen den Willen der Mehrheit oder meine eigene Partei durchsetzen, wenn ich denke: Das ist das Richtige für das Land.
Baerbock hat kürzlich einen Shitstorm geerntet, weil sie sagte: Wir unterstützen die Ukraine unabhängig vom Wählerwillen. Die AfD nennt das Verfassungsbruch.
Römmele: Quatsch. Baerbock hat immer gesagt: Wir unterstützen die Ukraine mit allen Mitteln, solange wir können. Jetzt kam nur der kleine Nachsatz: Egal, wie die Wähler das sehen. Das ist repräsentative Demokratie pur. Ich wähle jemanden, der dann die Entscheidungen frei nach seinem Gewissen trifft, ohne zu meinem Sprachrohr zu werden.
Sie schwärmen geradezu für Habeck und Baerbock. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?
Römmele: Finde ich nicht, ich halte ja auch Scholz für keinen schlechten Kanzler und seine Art hat auch etwas für sich. Er hat jetzt im Fernsehen gesagt, er bleibe als Kanzler ruhig. Das beruhigt die Leute, weil sie ihm eine Problemlösungskompetenz zusprechen. Habeck und Baerbock haben den Vorteil, dass sie anders reden und das bei den Menschen gut ankommt. Da fällt Lindner ein bisschen ab, er wirkt wie Westerwelle reloaded. Lindner pflegt auch diesen typischen Politsprech. Er spricht immer von der arbeitenden Mitte. Wer soll das denn sein?
Der typische FDP-Wähler.
Römmele: An die Menschen aus sozial schwächeren Schichten denkt er aber nicht.
Deshalb will Lindner ja immer die Gutverdiener besonders entlasten.
Römmele: Ja, aber das ist das Gegenteil von Solidarität, die wir jetzt im Winter besonders brauchen. Habeck sucht deshalb den Dialog mit den Menschen. Die Leute müssen wissen, um, was es geht. „Frieren für die Ukraine“, das ist kein dummer Spruch. Wir müssen auch Opfer bringen können. In der chinesischen Sprache ist das Zeichen für Krise auch das für Chance. Vielleicht wäre es deshalb auch die Zeit für einen neuen Koalitionsvertrag. Den müsste die Ampel neu aushandeln, weil sich eben die Geschäftsgrundlage für das Regieren völlig geändert hat.
Dann könnte Lindner nicht mehr ständig mit seiner Schuldenbremse kommen.
Römmele: Ja. Er müsste sich dann mal was Neues einfallen lassen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Die Ampel ist erschöpft