Obdachlosigkeit

Lernen von den Finnen

Rund 263 000 Menschen gelten in Deutschland als wohnungslos. Das nordische Land hat das Problem im Griff

Von 
Tobias Kisling
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Auch in der Hauptstadt Helsinki ist Wohnraum knapp und teuer – doch Finnlands Politik hält dagegen. © Jussi Hellsten/dpa

Helsinki. Es ist nur eine kleine Wohnung. Aber in ihr findet sich die Geschichte eines Lebens. Fotos zieren die Wände. Ein junger Mann in Militäruniform, aufgenommen in schwarz-weiß. Eine Urkunde. Lachende Kindergesichter. Ein Rennfahreranzug hängt an der Wand, daneben eine Vitrine mit Mercedes-Benz-Modellen und einer Biografie von Mika Häkkinen, zweifacher Formel-1-Weltmeister, ein Idol in Finnland.

Ausgeklügeltes Sozialsystem

Heikki Kakko gerät ins Schwärmen, wenn man ihn auf Häkkinen anspricht. 20 Jahre lang war Kakko selbst Rallyefahrer, arbeitete für einen Mercedes-Autohändler. Dann machte er sich mit fünf Freunden selbstständig, legte sein gesamtes Erspartes im Autogeschäft an – und scheiterte. Er sei über den Tisch gezogen worden, klagt Heikki. Alles habe er verloren. Sein Geschäft, sein Geld, zuletzt seine Wohnung. Einer der fünf Freunde habe sich das Leben genommen.

Dass der 67-Jährige trotz seines tiefen Falls nicht auf der Straße leben muss, verdankt er dem ausgeklügelten Sozialsystem der Finnen. Seit 2008 gilt in Finnland der sogenannte Housing-First-Ansatz. Die Idee: Bevor man Obdachlose therapeutisch betreuen oder sie wieder in den Arbeitsmarkt integrieren kann, brauchen diese zunächst ein Dach über dem Kopf.

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Während in der EU in den letzten zehn Jahren die Obdachlosigkeit um mehr als 70 Prozent angestiegen ist, sinkt sie in Finnland beständig. 3686 Obdachlose wurden in der offiziellen Statistik zum Jahresende 2022 ausgewiesen. Nicht erfasst sind allerdings papierlose Migranten. Dennoch: Vor 20 Jahren waren es noch rund dreimal so viele Obdachlose. 2027 soll niemand mehr obdachlos sein müssen, hat sich die Regierung zum Ziel gesetzt.

Ein negativer Schufa-Eintrag reicht

Ähnliche Ambitionen hegt die Bundesregierung. Bis 2030 will man hierzulande die Obdachlosigkeit überwinden, hat die Ampelkoalition vereinbart. Dabei sind die Parameter grundlegend verschieden. 263 000 Menschen gelten hierzulande als wohnungslos, leben also auf der Straße, in temporären Unterkünften oder kommen übergangsweise bei Freunden oder der Familie auf der Couch unter.

Wer einmal in die Obdachlosigkeit abgerutscht ist, hat es schwer. Der deutsche Wohnungsmarkt ist angespannt, die Wohnungsnot steigt. Jüngsten Berechnungen zufolge fehlen 700 000 Wohnungen. Schon ein negativer Schufa-Eintrag, weil beispielsweise Rechnungen nicht bezahlt wurden, kann reichen, um die Chancen auf dem freien Markt drastisch zu senken. Zudem sinkt die Zahl der Sozialwohnungen mit bezahlbaren Mieten seit Jahren.

Verglichen mit Deutschland wirkt Finnland wie ein Reallabor im Miniformat. Gerade einmal 5,5 Millionen Menschen leben auf einer Fläche, die fast so groß wie Deutschland ist. Wohneigentum ist viel verbreiteter als hierzulande. Und doch sind die Finnen mit ähnlichen Problemen konfrontiert. In den Städten ist Wohnraum knapp, die Immobilienpreise und Mieten sind hoch. Viele Häuser wurden vor 1970 gebaut und müssten saniert werden. Zudem altert die Bevölkerung stark.

Knapp 9000 preiswerte Sozialwohnungen bauen die Finnen pro Jahr. In Deutschland waren es zuletzt rund 21 000 neue Sozialwohnungen. Pro Kopf gerechnet stellt das nordische Land also pro Jahr rund sechseinhalb Mal so viele Sozialwohnungen fertig. Und im Gegensatz zu Deutschland, wo die Wohnungen oft schon nach 15 bis 20 Jahren aus der Sozialbindung fallen, sind sie in Finnland meist 40 Jahre lang preisgebunden.

„Um Jahrzehnte voraus“

Das entspannt den Wohnungsmarkt. Zumal auch die Eigentumsbildung attraktiv gemacht wird. Erstwohnungskäufer müssen keine zusätzliche Kaufsteuer zahlen. Der Staat bürgt zudem bis zum 45. Lebensjahr über ein Bausparvertragssystem mit einem Bankkredit.

Dass Finnland seine Wohnungsnot in den Griff bekommt, verlangt auch Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) Respekt ab. „Finnland ist uns um Jahrzehnte voraus“, sagt Geywitz. Ihre erste Auslandsreise als Ministerin führte sie nach Helsinki, wo sie sich selbst ein Bild vom finnischen Modell gemacht hat. Kontinuität sei der Schlüssel zum Erfolg, meint Geywitz. „Der Bereich der Bauwirtschaft und Wohnungspolitik ist ein langsamer Tanker. Wenn man Erfolge sehen will, muss man über mehrere Jahre und Jahrzehnte investieren.“

Trotzdem landen auch in dem skandinavischen Land Menschen auf der Straße. Drogen, Gewalt oder wie im Fall von Heikki Kakko der Bankrott – die Gründe, aus der eigenen Wohnung ausziehen zu müssen, sind vielfältig. Obdachlosigkeit ist vor allem ein soziales Problem. Es lässt sich aber auch in Zahlen fassen. Gesundheitsdienste, Polizeieinsätze, Aufwand wegen krimineller Vergehen: 40 000 bis 52 000 Euro kostet ein Obdachloser den Staat pro Jahr. „Obdachlosigkeit ist teurer als die Maßnahmen ihrer Bekämpfung“, ist Finnlands Umweltministerin Maria Ohisalo, die die Wohnungspolitik verantwortet, überzeugt.

Durch Housing First könnten diese Kosten im Schnitt um 15 000 Euro gesenkt werden, sagt Teija Ojankoski, Geschäftsführerin der Y-Foundation. Die gemeinnützige Organisation hat Housing First in Finnland etabliert. Mit 7400 Wohnungen für Obdachlose und 11 000 Sozialwohnungen ist die Y-Foundation nach eigenen Angaben zum viertgrößten Vermieter Finnlands aufgestiegen.

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