Herr Kühnert, bevor wir über Innenpolitik sprechen, müssen wir einen Blick auf die Ukraine werfen. Die USA will Streumunition zur Verteidigung gegen Russland liefern. Was halten Sie davon?
Kevin Kühnert: Die Sache ist ambivalent. Wir sehen an diesem Beispiel die Schwierigkeit eines moralischen Umgangs mit dem Krieg. Vor allem Russland setzt Streumunition in großem Umfang ein. Deshalb ist es verständlich, dass die Ukraine im wahrsten Sinne Waffengleichheit will. Gleichzeitig ist Streumunition spätestens seit 2010 mit dem Oslo-Abkommen international geächtet und insbesondere Deutschland hat sich gegen ihren Einsatz eingesetzt. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass es für uns bessere Möglichkeiten gibt, die Ukraine in die Offensive zu bringen.
Was wären das für andere Möglichkeiten?
Kühnert: Es geht um eine Verstetigung der Mittel, die die Ukraine seit Monaten erbittet und auch bekommt. Sie brauchen Artillerie, gepanzertes Gerät und vor allem Munition. Gestern erst haben wir ein neues Lieferpaket bekannt gegeben. Deutschland spielt bei diesen Hilfen international eine entscheidende und vor allem verlässliche Rolle.
Lassen Sie uns über Innenpolitik und die Ampel-Koalition sprechen, Herr Kühnert. Wie froh sind Sie, dass nun parlamentarische Sommerpause ist?
Kühnert: (lacht). Sehr. Für mich als Generalsekretär gibt es in der Parteizentrale natürlich noch eine Menge zu tun. Einer Ihrer Kollegen hat am Freitag geschrieben, man habe dem Parlament angemerkt, dass es urlaubsreif ist. Das kann ich bestätigen. Die Zündschnur war bei vielen sehr kurz, die Nerven waren mehr als angespannt und es ist auch noch sehr heiß gewesen. Ich glaube, Erholung tut allen Beteiligten gut. Das letzte halbe Jahr hat gezehrt.
SPD-Generalsekretär
- Am 1. Juli 1989 in West-Berlin geboren, trat Kevin Kühnert 2005 in die SPD ein.
- Nach der Kampagne gegen eine Neuauflage der Großen Koalition nach der Bundestagswahl 2017 erlangte er als Juso-Vorsitzender Bekanntheit. Das Amt hatte er bis 2021 inne.
- Seit 2021 ist Kühnert Bundestagsabgeordneter und
- SPD-Generalsekretär. seko
Das Verfassungsgericht hat verhindert, dass das Heizungsgesetz verabschiedet wird. Sie hatten zuvor noch mit einer Verabschiedung gerechnet. Oppositionsführer Friedrich Merz hat der Regierung vorgeworfen, die Rechte des Parlaments zu missachten. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch äußerte sich ähnlich. Der SPD-Abgeordnete Michael Schrodi hat für einen Eklat gesorgt, und in der Ampel wird seit Tagen um die Sozial- und Familienpolitik gestritten. Ihre Nerven liegen ganz schön blank, oder?
Kühnert: Viele von uns sind ein bisschen enttäuscht gewesen, weil wir viele Monate Arbeit in das Gesetz gesteckt haben und es deshalb gerne noch vor der Pause verabschiedet hätten. Der Öffentlichkeit muss man aber klar sagen: Niemand hat festgestellt, dass parlamentarische Rechte untergraben worden sind. Die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts haben lediglich gesagt, dass ihnen die Zeit fehle, das kurzfristig prüfen zu können. Sie haben deshalb die vorläufige Entscheidung getroffen, dass die Abstimmung aufgeschoben werden muss. Mehr nicht. Wir werden das Gesetz nun also im September so beschließen und zwar so, wie es jetzt vereinbart ist. Alle wissen also, worauf sie sich einstellen können.
Können Sie die Entscheidung des Verfassungsgerichts denn nachvollziehen?
Kühnert: Wir sind in einem Zwiespalt: Das Tempo im Parlamentsbetrieb wird immer höher und die Themen immer mehr und größer. Aber auch unser Tag hat nur 24 Stunden. Dass sich Abgeordnete Wochen und Monate lang vorbereiten können, ist die Vorstellung einer idealen Welt. Die gibt es aber nicht - völlig egal, wer regiert. Ich denke, es hat in den letzten Jahren schon weitaus drastischere Beispiele gegeben, bei denen parlamentarische Rechte wirklich strapaziert wurden. Das Heizungsgesetz wurde nun vier Monate lang zu Recht in aller Öffentlichkeit breit diskutiert und es gab zudem mehrere Anhörungen. Das ist sicherlich nicht das beste Beispiel dafür, dass Parlamentarier ihrer Kontrolle nicht nachkommen konnten.
Bei welchen Gesetzen ist das weniger der Fall gewesen?
Kühnert: In der EU-Wirtschaftskrise oder bei Maßnahmen in Corona-Zeiten sind zum Teil am selben Tag enorm viele Seiten auf den Tisch gelegt worden, unmittelbar bevor die Ausschüsse sie zu beraten hatten. Für Außenstehende mag es krass klingen, wenn man hört, dass Abgeordnete am Freitag hundert Seiten bekommen, die am Montag beraten werden sollen. Aber wir haben nun mal auch keinen klassischen Bürojob.
Wie sehr nervt Sie im Moment eigentlich Finanzminister Christian Lindner?
Kühnert: (lacht). Wir haben uns ja selbst ausgesucht, mit ihm und seiner Partei zu koalieren. Deshalb will und kann ich mich nicht beschweren. Wir merken im Alltag aber natürlich immer wieder, dass wir aus ganz unterschiedlichen Denkrichtungen kommen. Und trotzdem schaffen wir es immer wieder, Kompromisse zu schließen. Jetzt, wo es um den Bundeshaushalt geht, merkt man: Es geht ums Ganze. Wir kehren wieder zu den Regeln der Schuldenbremse zurück, auf die wir uns im Koalitionsvertrag verständigt haben. Damit sind aber noch längst nicht alle Fragen beantwortet. Wir müssen klug vorgehen. Es geht darum, Investitionen nicht auszubremsen und den Zusammenhalt in unserem Land nicht zu gefährden. Die SPD ist nicht für Sozialabbau gewählt worden. Deshalb werden wir keinen Haushalt zulassen, der Zeichen des Sozialabbaus ins Land sendet.
Sie haben gesagt, dass im Haushalt "nicht mit dem Rasenmäher alles Mögliche gekürzt werden kann", sondern jetzt "ein paar kluge Entscheidungen" getroffen werden müssten. Wo kann man denn klug sparen - und wieso hat das Christian Lindner noch nicht gesehen?
Kühnert: Es gibt die Diskussion ums Elterngeld und ob man einige Eltern mit höheren Einkommen davon ausschließen soll. Mein Parteivorsitzender Lars Klingbeil hat nun stattdessen vorgeschlagen, dass wir uns bei künftigen Ehen lieber vom Steuerprivileg des Ehegattensplittings verabschieden sollten. Das kostet die Steuerzahler viel Geld und schadet der Gleichstellung. Denn es ist noch immer so, dass insbesondere Frauen durch diesen steuerlichen Fehlanreiz von der Vollzeitarbeit abgehalten werden, weil es sich finanziell nicht lohnt. Das ist also gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ein kluger Vorschlag, der dem Fortschrittanspruch der Koalition gerecht werden kann. Die SPD will künftig mit einem Familiensplitting diejenigen Haushalte gezielt fördern, in denen Kinder leben. Das wäre zielgenauer und gerechter.
Die FDP hat den Vorschlag aber zurückgewiesen und teilweise scharf kritisiert. Hat Sie das überrascht?
Kühnert: Wir sind in der Koalition drei Parteien mit unterschiedlichen programmatischen Vorstellungen. Dass die FDP da jetzt nicht eins zu eins mitgeht, ist völlig normal. Der nächste Bundeshaushalt soll sparsam und fortschrittlich zugleich sein. Das ist eine echte Denksportaufgabe. Über den richtigen Weg sollten wir öffentlich und in der Koalition kreativ und unaufgeregt diskutieren. Ohne Austausch von Ideen wären wir nur bürokratische Verwalter des Koalitionsvertrages. Das entspricht nicht dem politischen Selbstverständnis der SPD.
Wie optimistisch sind Sie, dass die Einsparungen im Elterngeld doch nicht im Haushalt landen?
Kühnert: Zumindest gibt es Alternativen. Man muss in dem Zusammenhang allen nochmal deutlich sagen, dass die Haushaltsplanung ein Vorschlag der Bundesregierung ans Parlament ist. Jetzt ist das Parlament dran und kann im gesetzten finanziellen Rahmenentscheiden, welche Vorhaben finanziert werden. Mir ist es wichtig zu betonen, welchen Charakter das Elterngeld eigentlich hat: Es geht bei dieser Lohnersatzleistung darum, die Erziehungsarbeit gerecht aufzuteilen. Die Erziehung von Kindern ist nicht nur Frauensache. Männer sollen sich gleichberechtigt beteiligen. Wer das Elterngeld reformieren will, sollte diesen Aspekt nicht aus dem Blick verlieren.
Manuela Schwesig, Dietmar Woidke und Stephan Weil haben sich deutlich und öffentlich über die Arbeit der Ampel-Koalition beschwert. Weil hat etwa gesagt, die Menschen seien "hochgradig unzufrieden". Wie nehmen Sie das Bild der Ampel in der Öffentlichkeit wahr?
Kühnert: Die letzten Monate waren eine politische Belastungsprobe, weil wir sehr viele und große Themen gleichzeitig regeln mussten. In der SPD herrscht Konsens darüber, dass die Monate keine Blaupause dafür sein sollten, wie es die nächsten zwei Jahre weitergeht. Ich wünsche mir aber, dass wir jetzt endlich mehr über Ergebnisse unserer Politik und damit auch des Heizungsgesetzes sprechen. Dieses ist ganz anders geworden, als es anfangs vorgeschlagen war. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass es jetzt ein gutes Beispiel dafür ist, wie man den vermeintlichen Widerspruch zwischen ökologischen und sozialen Zielen versöhnen kann. Der Weg dorthin ist aber nicht vorbildhaft gewesen. Daraus haben wir gelernt.
Wie haben Sie es als Generalsekretär gefunden, dass Ihre Genossen die Kritik derart stark in der Öffentlichkeit geäußert haben?
Kühnert: Ich finde das normal. Alle drei haben die Kritik zuerst intern geäußert. Das ist ein Gebot der Fairness und darauf legen wir in der SPD großen Wert. Sie haben uns damit auch nicht ernsthaft gegen das Schienbein getreten, sondern nur etwas ausgesprochen, was sowieso offensichtlich ist. Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten tragen für Millionen Menschen politische Verantwortung. Sie würden ihren Job nicht gut machen, wenn sie es auch in die Bundespolitik hinein nicht vermitteln würden, wenn es an der Basis im Land brodelt. So begreifen wir in der SPD auch unsere Aufgabe als Volkspartei.
Widersprechen Sie mir, wenn ich die Ampel als einen in der Ecke stehenden oder schon einen in den Seilen hängenden Boxer bezeichne? Machen Sie sich Sorgen, dass die Ampel k.o. geht?
Kühnert: Wirklich gar nicht. Die Koalition ist leistungsfähig und die Bilanz viel stärker, als es das Bauchgefühl vermuten lässt. Wir regieren seit anderthalb Jahren und haben mit der Mindestlohnerhöhung, dem Bürgergeld, der Wohngeldreform, den Energiepreisbremsen, dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz und einer noch ewig langen Liste bereits riesige Herausforderungen bewältigt. Zum Teil waren das Themen, bei denen wir mit der Union jahrelang nicht weitergekommen sind. Wir haben also schon vieles auf der Habenseite. Wir müssen aber besser darin werden, den Streit um den richtigen Weg - der ausdrücklich zur Demokratie gehört - auch wieder zu beenden, wenn wir einen Kompromiss gefunden haben. Wenn ein Handschlag gemacht wurde, dann muss der auch gelten.
Warum schaffen Sie es denn dann nicht, dass das öffentliche Bild eher positiv als negativ erscheint?
Kühnert: Es gibt in den Reihen der Koalition ein paar Persönlichkeiten, die eine große Leidenschaft dafür entwickelt haben, das Haar in der Suppe zu suchen und dieses dann auch öffentlich von allen Seiten zu beleuchten. Diese Akteure bekommen für meinen Geschmack zu viel Aufmerksamkeit. Sie verzerren das Bild davon, wie viele Dinge geräuschlos funktionieren. Ich habe in den letzten Monaten immer wieder Stimmen wie die Frank Scheffler von der FDP gehört - dabei hatte der mit Heizungsgesetz fachpolitisch nicht viel zu tun. Ich wünsche mir, dass wir wieder mehr zum Fachprinzip zurückkommen und dass wir denjenigen mehr Gehör schenken, die Ahnung von einem Thema haben und sich tief in den Details auskennen. Ich habe selbst die Kostenaufteilung zwischen Mietern und Vermietern im Rahmen des Heizungsgesetzes verhandelt. Wir haben geräuschlos, respektvoll und fachlich miteinander gearbeitet. Da ist nichts nach außen gedrungen und was wir vereinbart haben, galt am Ende auch. Das müssen andere auch schaffen - und notorische Quertreiber brauchen auch mal eine Ansage von ihrer Partei- und Fraktionsspitze. Unkollegiales Verhalten darf nicht mit Applaus und Aufmerksamkeit belohnt werden.
Die AfD hat in Ostdeutschland zwei kommunale Wahlen gewonnen, liegt in Thüringen bei 34 Prozent und im Politbaromenter vor SPD und Grünen auf Platz zwei. Nächstes Jahr gibt es Landtagswahlen im Osten. Wie ernst ist die Lage?
Kühnert: Ich halte die AfD für eine hochgefährliche Partei - aber nicht erst, seit sie in Umfragen bei 20 Prozent liegt. Das Perfide an Rechtsaußenparteien ist, dass sich ihre Gefahr nicht nur daran bemisst, wie viel Zustimmung sie erhalten, sondern viel mehr an dem gesellschaftlichen Klima, das sie erzeugen. Sie hetzen, spalten und radikalisieren. Wir müssen uns mit dem Gedanken beschäftigen, dass zumindest ein Teil der AfD-Wählerschaft von heute nicht trotz, sondern wegen deren Programm diese Partei wählt. Ich bin gerne bereit, offen über Fehler unserer Koalition zu sprechen. Das habe ich in diesem Interview auch getan. Aber wer glaubt, dass die 20 Prozent alle nicht mehr AfD wählen würden, wenn nur die Regierung geräuschloser arbeitete, irrt gewaltig. Wir haben es mancherorts mit einem erheblichen Potenzial an Gedankengut zu tun, das nicht lupenrein demokratisch ist. Was uns gelingen muss, ist aus Kulturkämpfen wieder ökonomische Debatten zu machen. Mehr Tarifbindung, weniger Winnetou-Debatten. Denn wenn es um die sozialen Fragen geht, ist der rechte Rand blank.
Sie halten die AfD für "hochgefährlich". Halten Sie ein mögliches Verbotsverfahren für zielführend?
Kühnert: Dafür gibt es in unserem Rechtsstaat klare Kriterien. Die werden nicht von konkurrierenden Parteien, sondern von Gerichten überprüft. Am Ende wird das Gedankengut, das hinter der AfD und ihren Wählerinnen und Wählern steht, aber unabhängig davon existieren, ob es die Partei gibt oder nicht. Wir können uns von der AfD und ihrer Zustimmung nicht befreien, wenn man die AfD nur verböte.
Kanzler Olaf Scholz hat die AfD als "Schlechte-Laune-Partei" bezeichnet. Ist das nicht eine Verniedlichung eines Problems, das für die Demokratie eine Gefahr ist?
Kühnert: Die AfD ist natürlich nicht nur eine Schlechte-Laune-Partei - aber sie ist das auch. Schlechte Laune macht Wut und Wut ist der Treibstoff der AfD. Das Perfide ist: Parteien sind dazu da, um Probleme zu lösen. Die AfD braucht aber Probleme wie die Luft zum Atmen und bläst sie deshalb permanent auf. Damit ist sie, zugegebenermaßen, auch relativ weit gekommen.
Sie haben vor ein paar Tagen im SWR so etwas wie Schulzeugnisse für Abgeordnete ausgestellt und den Fraktionsvorsitzenden der AfD, Alice Weidel und Thino Chrupalla, bescheinigt, dass sie das Klassenziel verfehlt haben. Gibt es AfD-Abgeordnete, die von Ihnen in die nächste Stufe versetzt werden?
Kühnert: Ich wehre mich dagegen, die Vertreter der AfD anhand ihrer Braunschattierungen zu sortieren. Ich glaube, wenn wir damit anfangen, verharmlosen wir die AfD. Natürlich gibt es dort Leute, die noch schneidiger formulieren oder argumentieren als andere. Aber alle AfD-Mitglieder haben eines gemeinsam: Sie unterstützen aktiv eine Partei, die spaltet, Menschen gegeneinander aufhetzt und die unsere Demokratie angreift. Ob die das individuell wollen, ist unerheblich. Ihnen muss klar sein: Sie sind in einer Partei mit Personen wie Björn Höcke. Wer das macht, hat eine Entscheidung getroffen und sich für die falsche Seite entschieden.
Das Umfragehoch der AfD ist keine Momentaufnahme, sondern hält seit Monaten an. Haben Ampel und SPD eigentlich irgendeine eine Strategie, wie sie die AfD wieder einfangen können?
Kühnert: Wir müssen die politische Debatte wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Das heißt für die SPD, dass wir über Einkommen, die Wohnsituation, die öffentliche Daseinsvorsorge und gleichwertige Lebensverhältnisse der Menschen diskutieren müssen. Bei der Bundestagswahl hat die SPD über Mindestlohn, bezahlbares Wohnen und stabile Renten gesprochen. Das Ergebnis ist bekannt und spricht für sich. Wenn demokratische Parteien lieber Debatten über Ballermann-Songs, Ernährungsgewohnheiten und Ähnliches führen, verlieren wir alle miteinander. Bei dem Spiel genießt die AfD immer Heimrecht. Die SPD ist nicht dafür da, Leuten zu erklären, wie sie zu leben haben, sondern dafür da, dass Leute von ihrem Lohn leben können und dass auch am Ende noch genug übrig ist, um ein gutes Leben zu führen. Deshalb müssen wir die Debatte auf diesen Feldern führen. Auf denen ist die AfD übrigens sehr unklar oder ganz offensichtlich standort- und arbeitnehmerfeindlich unterwegs. Wenn wir wieder öfter über wirklich Relevantes sprechen, können wir die AfD als Windbeutel entzaubern.
Sie wollen die Politik wieder mehr versachlichen. Das stelle ich mir im momentan stark polarisierten Politikdiskurs mit einer gespaltenen Gesellschaft schwierig vor, ehrlich gesagt. Der Stammtisch ist einfacher zu bedienen als über Fragen zu Mieten und Markt zu sprechen. Ist das Versachlichen denn im Moment möglich?
Kühnert: Das muss möglich sein. Wir leben in einer Zeit, in der die ökonomischen Fragen jeden stark betreffen. Denken Sie an die Inflation oder die Energiekrise, die noch nicht überwunden ist. Viele Menschen haben sich zuletzt häufiger als früher noch über ihre Lohnsituation unterhalten und suchen nach den richtigen politischen Antworten. Schauen Sie, wie viele in den letzten Monaten in Gewerkschaften eingetreten sind, weil sie merken, dass es in den Tarifvertragsverhandlungen um richtig viel geht. Gerade für die unteren Lohngruppen! Als führende Regierungspartei ist es die Aufgabe der SPD, diese Diskussionen offensiv zu führen. Deshalb haben wir uns auch zur Mindestlohnerhöhung geäußert und gesagt, dass die von den Arbeitgebern zugestandenen 41 Cent in einer Zeit, in der die Kosten so sehr steigen, bei weitem nicht ausreichen. Da bleiben wir dran.
Oppositionsführer Merz fällt mit Äußerungen auf, die zumindest mal den wirklich rechtesten Rand der Union bedienen. Man sagt ihm nach, damit in der AfD-Wählerklientel fischen zu wollen. Stärkt oder schwächt das die AfD auf Dauer?
Kühnert: Ich will nicht missverstanden werden: Weder die Ampel noch Friedrich Merz sind für Werte der AfD verantwortlich. Vor jeder Stimme für die AfD steht die bewusste Entscheidung eines erwachsenen Menschen in Deutschland, der auch andere Wege finden könnte, seinen Unmut zum Ausdruck zu bringen. So einfach kann man mündige Wählerinnen und Wähler nicht aus der Verantwortung lassen. Was die Union aber registrieren sollte, ist, dass die Übernahme von Begrifflichkeiten von Rechtsaußen einzig und allein Rechtsaußen stärkt. Begriffe wie ,Sozialtourismus? in Bezug auf Kriegsflüchtlinge oder ,Heizungs-Stasi? vergiften die Debatte, hetzen auf und schaffen noch mehr Wut. Und Wut ist nicht der Treibstoff der demokratischen Opposition, sondern der Treibstoff der Demokratiefeinde.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Der falsche Ton