Berlin. Um 10.48 Uhr am Mittwochmorgen schickt das Bundesfamilienministerium eine E-Mail raus. Betreff: „Persönliche Erklärung von Ministerin Franziska Giffey“. Kurz zuvor hatte sie in der Kabinettssitzung die Bundeskanzlerin um ihre Entlassung aus dem Amt gebeten. Weil Merkel wusste, dass Giffey am Ende des Treffens den Kolleginnen und Kollegen noch etwas Wichtiges zu sagen hatte, erteilte sie ihr kurz vor Schluss noch einmal das Wort. Sehr bewegend sei das gewesen, heißt es nachher von Teilnehmern. Sie nehme die Entscheidung „mit großem Bedauern“ entgegen, erklärt die Kanzlerin später. Die SPD-Politikerin Giffey, im Osten geboren, als Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln bundesweit bekannt geworden, war seit Langem eine, die auch auf Unionsseite viele mochten.
Geradezu traurig klingt Kabinettskollege Jens Spahn an diesem Morgen: „Ich habe sie als Ministerin immer sehr engagiert und sachorientiert erlebt“, sagt der CDU-Gesundheitsminister unserer Redaktion. „Persönlich schätze ich ihre optimistische und immer zugewandte Art.“ Harsche Kritik dagegen kommt aus der Opposition: Die Grünen werfen Giffey „scheibchenweisen Umgang mit ihrem Fehlverhalten“ in der Plagiatsaffäre um ihre Dissertation vor: Mitten in der Pandemie, in der vor allem auch Kinder und Familien die Leidtragenden der Krise seien, brauche es ein leistungsfähiges Ministerium. Es wäre besser gewesen, früher reinen Tisch zu machen und das Amt nachzubesetzen.
Bereits auf Titel verzichtet
Steile Karriere
Franziska Giffey wurde am 3. Mai 1978 in Frankfurt (Oder) geboren.
Sie war von April 2015 bis März 2018 Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln.
Seit 14. März 2018 war sie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Seit November 2020 ist sie Landesvorsitzende der SPD Berlin.
Im Februar 2019 wurde bekannt, dass Giffeys Dissertation von der Freien Universität Berlin wegen Plagiatsverdachts überprüft wird. Giffey hatte die Überprüfung selbst beantragt, nachdem auf dem VroniPlag Wiki 73 Textstellen auf 49 der 205 Seiten beanstandet worden waren. ZRB
In ihrer Erklärung begründet die 43-Jährige den Schritt mit dem laufenden Verfahren zur Überprüfung ihres Doktortitels. Giffey hatte nach Plagiatsvorwürfen bereits darauf verzichtet, ihren Titel zu tragen, und musste zuletzt damit rechnen, dass ihr der Titel nun auch formal entzogen würde. Für diesen Fall, so hatte sie gesagt, werde sie auch ihr Ministeramt aufgeben. „Sollte die Freie Universität in ihrer nunmehr dritten Überprüfung meiner Arbeit zu dem Ergebnis kommen, mir den Titel abzuerkennen, werde ich diese Entscheidung akzeptieren. Bereits heute ziehe ich die Konsequenzen aus dem andauernden und belastenden Verfahren. Damit stehe ich zu meinem Wort“, schreibt sie in ihrer Erklärung.
Die FU Berlin habe ihr im laufenden Prüfungsverfahren bis Anfang Juni Zeit für eine Stellungnahme gegeben, die sie auch wahrnehmen werde, so Giffey. Politik und Öffentlichkeit hätten aber schon jetzt Anspruch auf Klarheit. Daher habe sie sich zum Rücktritt entschieden.
Ihre Spitzenkandidatur für die Berliner Abgeordnetenhauswahlen im September bleibe davon jedoch unberührt. Die Dissertation stammt aus dem Jahr 2010. Die FU hatte Giffey im Herbst 2019 nach Plagiatsvorwürfen wegen Mängeln in ihrer Dissertation eine Rüge erteilt, ihr aber den Doktortitel nicht entzogen. Nach Kritik an diesem Verfahren kündigte die FU eine erneute Prüfung durch ein neues Gremium an. Die Rüge wurde zurückgenommen.
Bereits in der ersten Maiwoche hatte die FU bekannt gegeben, dem Präsidium liege inzwischen der Bericht des neuen Prüfgremiums vor. Nach einem Medienbericht soll sich die Prüfungskommission für die Aberkennung des Doktortitels ausgesprochen haben. Überraschend kam Giffeys Schritt daher für viele nicht. Giffey legt das Amt zum Monatsende nieder. Dann sind es noch knapp vier Monate bis zur Bundestagswahl am 26. September.
Lambrecht übernimmt
Die SPD will den Posten der Familienministerin nicht nachbesetzen. Kommissarisch soll Justizministerin Christine Lambrecht die Arbeit übernehmen. Das liegt nahe, weil Lambrecht und Giffey bei vielen Themen zuletzt eng zusammengearbeitet haben – etwa bei der Frauenquote für die Vorstände oder der Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Ungewöhnlich ist das Verfahren nicht: 2017 wurde SPD-Generalsekretärin Katarina Barley kurz vor der Bundestagswahl Familienministerin, Amtsvorgängerin Manuela Schwesig war Ministerpräsidentin in Schwerin geworden. Nach der Wahl übernahm Barley zusätzlich kommissarisch die Leitung des Arbeitsministeriums, weil Ministerin Andrea Nahles Fraktionschefin geworden war. Barley wurde im März 2018 Justizministerin in der neuen Bundesregierung – und Giffey übernahm das Familienressort.
Gut vier Monate vor der Abgeordnetenhauswahl in Berlin sieht eine Umfrage die Grünen weiter in Führung. In der am Dienstag veröffentlichten Insa-Erhebung kommt die Partei von Spitzenkandidatin Bettina Jarasch auf 25 Prozent. Die SPD mit Spitzenkandidatin Giffey liegt bei 20 Prozent. Giffey hat zwar das Handicap von Plagiatsaffäre und Rücktritt, aber nun auch Beinfreiheit für die Aufholjagd, zumal ihre Partei geschlossen hinter ihr steht. CSU-Generalsekretär Markus Blume ätzt bereits in der Noch-Ministerin Richtung: „Faktisch nimmt sie sich also nur eine Auszeit, um sich auf den Wahlkampf für den Posten der Regierenden Bürgermeisterin zu konzentrieren.“
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