Deutsche Einheit - Eindrücke von den Problemen ostdeutscher Kommunen nach der Wende

Eine Reise kurz vor Stunde null

Von 
Peter W. Ragge
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Blick auf die Leipziger Innenstadt kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof Mitte der 1990er Jahre. © dpa

Es ist eine besondere Reise, eine Reise ins eigene Land – aber noch nicht in den eigenen Staat. Im Spätsommer startet ein ungewöhnlicher Sonderzug. Aufs Gleis gesetzt hat ihn der Deutsche Städtetag, und an Bord ist auch ein Vertreter dieser Redaktion. Er erinnert sich hier an eine Reise, die von Bonn nach Potsdam, von Leipzig nach Hannover, von dort nach Wismar und Lübeck führte und zeigt, wie es, wie man damals sagt, „drüben“ aussieht, in den Städten der gerade noch existierenden DDR.

„Bei uns ist doch schon die Veränderung der Lage eines Bleistifts Revolution“: Er klingt sarkastisch, dieser Satz. Ausgesprochen wird er von einem jungen westdeutschen Juristen, der in der West-Berliner Senatsverwaltung sein Referendariat gemacht hat und nun in Potsdam angestellt ist, bei der Stadtverwaltung. Da ist alles völlig anders, da ist die Revolution Alltag und die Lage des Bleistifts egal. „Wir fangen hier überall bei null an, nicht nur juristisch“, beschreibt der Mann die Situation, die für DDR-Städte typisch ist.

Weder Personal noch Geld

Dabei hat Potsdam noch relativ gute Ausgangsbedingungen – weshalb der Sonderzug auch von Bonn nach Potsdam fährt. Bonn ist Partnerstadt, hilft Potsdam mit Erfahrungen, Personal, Gesetzestexten, Formularen. Darauf können nach Angaben des Deutschen Städtetages damals aber nur 150 der 7500 meist kleinen Kommunen der DDR zurückgreifen – aber dort, wo der Sonderzug hinrollt, funktioniert es. Er ist auch ein Ruf, dass die Kommunen im anderen deutschen Staat dringend Hilfe brauchen.

„Hier kommt alles vor, was Prüfern sonst nur beim Examen einfällt“, umschreibt der junge Jurist das, was Politiker in der Wendezeit „totale Rechtsunsicherheit“ nennen. 50 Jahre kommunistischer Zentralismus haben überall ihre tiefen Spuren hinterlassen. Zwar stehen seit der friedlichen Revolution an der Spitze der Städte und Gemeinden Leute, die als „unbelastet“ gelten. Der ihnen unterstehende Apparat funktioniert jedoch kaum, soweit er überhaupt vorhanden ist.

Früher wurden die Rathäuser von „Instruktoren“ beherrscht, welche die Einhaltung der SED-Parteitagbeschlüsse zu überwachen hatten. Was vor Ort geschah, bestimmte die Kreis- und Bezirksparteiverwaltung. „Der Parteisekretär hat zugestimmt“ ist lange der einzige Satz, der in ostdeutschen Rathäusern etwas in Bewegung setzt. Müllabfuhr, Entwässerung oder Energieversorgung sind als „Volkseigene Betriebe“ organisiert, ohne Kompetenz der Kommunen. Plötzlich sind sie zuständig – haben aber weder Personal noch dazu passende Verwaltungsstrukturen noch das nötige Geld.

Zwar stehen westdeutsche Investoren noch vor der Vereinigung Schlange, manche mit Goldgräbermentalität und großspurigem Auftreten. Aber Grundbücher oder Kataster – das waren in der DDR Fremdworte. Die Verwaltungen können lange nicht sagen, wem was gehört. Über Jahrzehnte hinweg hat sich niemand um Vermessung gekümmert. Für Gewerbeanmeldungen fehlen alle Voraussetzungen. Flächennutzungsplan oder Bauleitpläne – alles unbekannt. Und wie soll man ohne bezifferbares Grundkapital und messbare Erträge der Firmen eine Gewerbesteuer berechnen?

Juristen, die sich da auskennen, fehlen ebenso. Und wenn es sie gibt, werden sie wegen ihrer Vergangenheit argwöhnisch beäugt. Die oberste Stasi-Kaderschmiede hieß schließlich offiziell „Hochschule für Rechtswissenschaft“. Rechtsunsicherheit sei daher „das größte Investitionshemmnis“ auf dem Weg zum Wirtschaftsaufschwung, formuliert daher der Städtetag warnend.

Noch deutlicher wird seinerzeit Hinrich Lehmann-Grube. 1979 bis 1990 Oberstadtdirektor von Hannover, wechselt der Sozialdemokrat nach der Einheit in den Osten und ist bis 1998 Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, wo er 2017 stirbt. Mit ihm zu sprechen, ist noch rückblickend eindrucksvoll – denn da spricht der Praktiker mit immenser Erfahrung.

Großer Identitätsverlust

Kommunale Selbstverwaltung, so betont er, habe „fundamentale Bedeutung“ für das Gelingen der Einheit, mahnt er. Ohne Verkehrswege, Wohnungen, funktionierende Müllentsorgung und attraktive Kultureinrichtungen werde niemand in der ehemaligen DDR langfristig investieren oder arbeiten wollen, sagt er. Die Bezirke der DDR sind aufgelöst, die DDR-Zentralverwaltung ebenfalls, die neuen Länderregierungen formieren sich erst. Umso wichtiger sei es, die unterste Verwaltungsebene schnell funktionstüchtig zu machen. Die Städte könnten auch helfen, den „ungeheuren Identitätsverlust“ auszugleichen, mit dem die DDR-Bürger nach dem Zusammenbruch ihres Staates zu kämpfen hätten, so Lehmann-Grube. Der Leipziger Oberbürgermeister begreift die Einheit damals als – nach den beiden Weltkriegen – „dritte gewaltige Kraftanstrengung des deutschen Volkes in diesem Jahrhundert“, wie er in diesen Spätsommertagen 1990 sagt. „Ich habe aber den Eindruck“, so Lehmann-Grube bedrückt, „dass die Dimension des Vorgangs in der politischen Klasse der Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch nicht begriffen worden ist“. Liest man den Satz drei Jahrzehnte später, so hat sich das bewahrheitet.

Redaktion Chefreporter

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