Berlin. "Hier Eberhard Diepgen, Berlin." Wie sich der Interviewpartner am anderen Ende der Telefonleitung meldet, das sagt schon alles. Er ist der bekannteste CDU-Politiker Berlins, Regierender Bürgermeister mit der längsten Amtszeit, fünf Jahre vor dem Mauerfall und zehn danach. Insofern hat der 78-Jährige in dem 100-minütigen Telefon-Interview Einiges zu erzählen. Denn wie in einem Brennglas verdichten sich in der Hauptstadt Erfolge und Herausforderungen der deutschen Einheit.
Herr Diepgen, aktuelle Frage zuerst: Wie gehen Sie mit der Corona-Krise um?
Eberhard Diepgen: Hm (Stille).
Herr Diepgen, sind Sie noch da?
Diepgen: Ja, ja, ich will nur eine staatsmännische Antwort geben (lacht): Mit Vorsicht und doch einer gewissen Gelassenheit. Ich achte darauf, dass völlig unnötige Termine nicht stattfinden. Aber das Leben muss weitergehen.
Ein Termin, der sicher nicht unnötig ist, wird der Tag der deutschen Einheit. Wie verbringen Sie ihn?
Diepgen: Rund um den 3. Oktober rede ich an mehreren Veranstaltungen in verschiedenen Bundesländern. Am Tag der Einheit werde ich mich mit Freunden treffen, im Zweifelsfalle in einer neuen politischen Entscheidung die Verhältnismäßigkeit verletzt sehen und dann in den Zug zu einer Veranstaltung nach Nordrhein-Westfalen steigen.
Sie haben den Turnus bei der Ausrichtung der Einheitsfeier zwischen den einzelnen Bundesländern stets abgelehnt. Was stört Sie?
Diepgen: Am Tag der deutschen Einheit muss das Gemeinsame im Vordergrund stehen, nicht die Vielfalt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man in Frankreich auf die Idee käme, die zentrale Feier des 14. Juli in Paris von einer Stadt in die andere wandern zu lassen. Alles mit dem Risiko und oft auch der Wirklichkeit, dass die Werbung für die Region zu stark in den Vordergrund gerückt wird. Das alles wird dann mit den Grundsätzen unseres Föderalismus begründet. Aber auch im Föderalismus gibt es gesamtstaatliche Verantwortung, Geschichte und Kultur. Am Nationalfeiertag muss dies im Vordergrund stehen.
Bei uns bestehen zwischen Nationalfeiertag und Volkstrauertag oft nur graduelle Unterschiede. Die Franzosen und Amerikaner feiern den ihrigen viel ausgelassener.
Diepgen: Ich glaube in der Tat, dass ausgelassenes Feiern auch zu einem Nationalfeiertag gehört - bei aller Auseinandersetzung mit Geschichte und aktuellen Fragestellungen.
Warum ist das bei uns so getragen?
Diepgen: Nach den Verbrechen des Holocaust tun sich viele noch immer schwer mit dem Bekenntnis zur eigenen Nation. Wir sind ja auch eine verspätete Nation, ein verspäteter Nationalstaat. Noch immer tun sich einige schwer mit der Gründung des deutschen Nationalstaates durch Bismarck. Das war schon mal stärker. Ich glaube, dass heute selbst die, die als Schlussfolgerung aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg die Auffassung vertraten, Deutschland müsse weiter geteilt bleiben, dies inzwischen als Fehler erkannt haben. Deutschland hat sich zu einer weltweit anerkannten Demokratie entwickelt.
Warum ist der 3. Oktober für Sie ein Grund zu feiern?
Diepgen: Es war stets Ziel meiner politischen Arbeit, dass wir die Teilung Deutschlands und Berlins überwinden. Und ich glaube, wir haben auch Anlass, glücklich zu sein. Denn wir alle haben am 9. November 1989 und danach wirklich Glück gehabt.
Haben Sie vor der Wiedervereinigung Deutschlands und Berlins geglaubt, dies zu Ihren Lebenszeiten noch erleben zu können?
Diepgen: Ich behaupte nicht, dass ich mit Ereignissen wie dem 9. November 1989 gerechnet habe. Aber im Laufe des Jahres 1989 hat sich bei mir der Eindruck verfestigt, dass es grundlegende Veränderungen gibt, die eine Chance zur Überwindung des Eisernen Vorhangs eröffnen.
Was hat die Teilung Berlins für Sie persönlich bedeutet?
Diepgen: Die Teilung war für mich immer Belastung und Herausforderung. Das hat gemeinsam mit den sozialen Problemen in meiner Jugend meine politische Haltung geprägt. Ich bin mit dieser Teilung groß geworden. Wir haben unmittelbar an der Demarkationslinie gewohnt, mit dem ganzen Hin und Her über die Sektorengrenze und dem Bau der Mauer unmittelbar vor den Augen. In der Schule hatte ich Klassenkameraden, die aus dem Ostteil kamen, die dort nicht zur Schule gehen konnten, ihr Abitur im Westteil der Stadt nachgeholt haben.
Wie haben Sie den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 erlebt?
Diepgen: Aus dem Fenster unserer Wohnung konnten wir die Absperrung und den schrittweisen Bau der Mauer unmittelbar am alten Herthaplatz beobachten. Hilflos, fassungslos. Nach den Erfahrungen mit dem ungarischen Aufstand 1956 glaubte ich nicht an ein eine Gegenwehr des Westens. Kennedy hatte ja auch nur eine Garantie für die Lebensfähigkeit der Westsektoren gegeben. Am nächsten Tag habe ich als Werkstudent bei Siemens angefangen. Von den drei Schichten war nur noch eine halbe da. Mit einem Kollegen aus Ostberlin diskutierten wir seine Seelennot, ob er bleiben oder zurück zur Familie gehen sollte. Am dritten Tag blieb er weg.
Was hat dieses Erlebnis politisch konkret mit Ihnen gemacht? Es fällt auf, dass Sie im Jahr darauf in die CDU eingetreten sind?
Diepgen: Es war für mich eine bleibende Erfahrung über die Abgrenzung von Einfluss-Sphären, die in der Realpolitik zu beachten sind. In die CDU bin ich mehr wegen Entwicklungen an der Universität eingetreten - ganz anders als viele in meiner Generation (lacht). Ich bin in die CDU eingetreten aus Protest gegen die Bevormundung durch Links, aus Protest dagegen, dass man nicht einmal eine Meinung äußern konnte, wenn sie nicht ganz dem - heute würde man sagen: - Mainstream entsprach.
1987 saßen Sie neben Ronald Rea-gan, als dieser am Brandenburger Tor ausrief: Mister Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Was haben Sie gedacht? Welch ein Träumer?
Diepgen: Diese Passage war mir angekündigt. Ich hielt sie für richtig. Die Rede ist aber erst 1989 als visionär eingestuft worden. Als sie gehalten wurde, wurde sie in Deutschland und weiten teilen Westeuropas nicht nur von der Mehrzahl der selbst ernannten Intellektuellen als Produkt des Kalten Krieges angesehen, von vielen anderen bestenfalls belächelt.
Sie haben Erich Honecker mehrmals getroffen. Was war er für Sie: Diktator, gar böser Mensch, oder ein Gefangener seines Systems?
Diepgen: Ich glaube, das Letztere ist richtig. Er konnte in den Gesprächen über die von den Mitarbeitern vorbereiteten Verhandlungsergebnisse hinausgehen, war in Details informiert. Bei den letzten Terminen zeigte sich allerdings immer stärker eine Realitätsverweigerung gegenüber den Entwicklungen in der DDR. Altersbedingt und typisch für viele Autokraten.
Am 9. November 1989 wurde die Mauer geöffnet - wo waren Sie da?
Diepgen: Meine Tochter hat an dem Tag Geburtstag. Ich bin daher früher nach Hause gekommen. In den frühen Abendstunden rief mich Thomas de Maizière, damals Pressesprecher der CDU-Fraktion, an und berichtete über neue Entwicklungen, die aber noch nicht richtig eingeschätzt werden konnten. Danach wurde ich zu Rundfunk und Fernsehen gerufen und bin dann in den späten Abendstunden mit meinem VW an die Mauer gefahren. Ich war auch kurz in Ostberlin und bin mehrmals zwischen Mauer und Kudamm hin und hergependelt, das Auto stets voller Menschen. "Mal schnell zum Kudamm, wer weiß, ob es morgen noch geht", hieß es. Meine Tochter war sauer, dass ich sie nicht abgeholt habe, damit sie auch auf der Mauer tanzen konnte.
Sie waren vor und nach dem Mauerfall im Amt, just zu diesem Zeitpunkt aber gerade nicht. Wie haben Sie das damals empfunden?
Diepgen: Anfangs war ich richtig frustriert. Das hat sich mit vielen Veranstaltungen in der DDR dann schnell gelegt. Es war ja eine spannende Zeit. Was mich heute tröstet ist, dass ich danach in einer Zeit in der Verantwortung stand, in der die Grundentscheidungen für die wieder vereinte Stadt gefallen sind.
Was hat Sie damals so frustriert?
Diepgen: Mich hat schon betroffen gemacht, geärgert, ja frustriert, dass zu einem Zeitpunkt, an dem sich eine Chance zur Wiedervereinigung, meinem politischen Traum, auftat, wir hier ausgerechnet in Berlin, angeführt von der Alternativen Liste, den damaligen Grünen, einen Senat hatten, der damit überhaupt nix am Hut hatte. Im Gegenteil: Der arbeitete noch weit in das Jahr 1990 hinein für den Fortbestand von zwei deutschen Staaten.
Ein hartes Urteil.
Diepgen: 30 Jahre lang wurde im Abgeordnetenhaus von Berlin zu Beginn jeder Sitzung die Formel gesprochen, man bekunde "unseren Willen, dass die Mauer fallen und dass Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden muss". Im Januar 1990, wenige Wochen nach dem Fall der Mauer, haben Alternative Liste und SPD sie abgeschafft.
Wie war Ihr Verhältnis zu Walter Momper damals, wie ist es heute?
Diepgen: Damals gespannt, und das ist zurückhaltend formuliert. Inzwischen ist es entspannt, eher freundschaftlich. Wir haben heute ja sogar eine gemeinsame Kolumne in einer Zeitung. Er war ja erst sehr skeptisch im Hinblick auf alle Fragen der Wiedervereinigung - ich sage: Er war dagegen - , aber er hat das im Laufe des Jahres 1990 verändert und gehörte zu jenen, die innerhalb der SPD auch gegen Oskar Lafontaine auf eine schnelle Wiedervereinigung gedrängt haben.
Wann und mit welchen Gefühlen sind Sie das erste Mal durch das Brandenburger Tor gelaufen?
Diepgen: Na, als das Brandenburger Tor das erste Mal geöffnet wurde, im Dezember 1989. Also, das war schon toll, ein bisschen noch unter dem Eindruck: Nun rennen die anderen da vorne weg, und es war eigentlich Dein Traum - spielte eine Rolle, will ich ehrlich zugeben. Die bemerkenswerteste Erinnerung an diesen Tag ist jedoch: Ich war mit meinen Kindern dort. Und die verlor ich plötzlich. Und die dann wieder zu finden, das war der damals wichtigere Gedanken. Aber ein Bekannter hatte sie bei sich. Es ging also alles gut.
War für Sie klar, dass dem Mauerfall die Einheit folgen würde?
Diepgen: Selbstverständlich war nichts. Es öffnete sich eine Chance. Das Zehn-Punkte-Programm von Helmut Kohl von Ende November war ja ein vorsichtiges Tasten, er sprach von einer möglichen Konföderation, von Wiedervereinigung war noch nicht die Rede. Die Entwicklung ist erst auf Grund der Massendemonstrationen überall in der DDR und dem klaren Ergebnis der Volkskammerwahlen unumkehrbar Richtung Wiedervereinigung gelaufen. Umkehrbar wäre sie nur gewesen bei einem militärischen Eingreifen der Sowjetunion. Das war lange Zeit unsere Angst, genauso wie die Möglichkeit der Abwahl Gorbatschows oder gar eines Putsches gegen ihn. Der Abzug der sowjetischen Truppen 1994 war für mich daher fast ebenso bedeutsam wie der 3. Oktober.
Der Bundestag entschied 1991 mit 337 zu 320 Stimmen für Berlin als Hauptstadt. Neun Stimmen mehr für Bonn, und das wär's gewesen - bisschen knapp nach 40 Jahren Treuebekenntnissen zu Berlin.
Diepgen: (Stille) Was bringt es, mich noch einmal aufzuregen über die Abkehr von all den heiligen Schwüren bis zur Behauptung, Berlin sei vor dem Hintergrund der Geschichte und der Leistungen Bonns keine geeignete Hauptstadt. Noch mehr Ärger als über diese Abstimmung habe ich über das Verfahren danach.
Was meinen Sie damit konkret?
Diepgen: Mit allen Tricks wurde versucht, die Hauptstadtentscheidung zu verändern. Die Bonner Ministerialbürokratie bezweifelte zum Beispiel, dass die Statik der in Aussicht genommenen Gebäude in Berlin ausreicht. Jahrelang wurde an Gutachten gearbeitet. Derartige Verzögerungen haben die Entwicklung Berlins für Jahre aufgehalten. Dann wurde 1994 aus dem Hauptstadtbeschluss der Doppelhauptstadt-Beschluss. Bundesbehörden wurden sogar aus Berlin abgezogen. Jahrelang hatte man zuvor ihre Existenz in Berlin mit Zähnen und Klauen gegen sowjetische Proteste verteidigt. Und mit dem allzu schnellen Abbau von allen Formen der Berlin-Förderung hat man die Stadt bewusst in eine hohe Verschuldung getrieben. Nach 1990 musste ja in die Einheit der Stadt investiert werden. Die finanziellen Grundlagen aber wurden der Stadt entzogen.
Gregor Gysi sagte einmal, der PDS (heutige Linke) sei zu verdanken, dass Berlin Hauptstadt sei, denn sie habe 1991 als einzige Fraktion geschlossen für Berlin gestimmt.
Diepgen: Das Abstimmungsverhalten der PDS ist historischer Fakt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ein Jahr später die PDS den Umzug nach Berlin für finanziell nicht tragbar gehalten hat. Die Sache ist also durchaus - na, sagen wir - ambivalent.
Wie hat sich Baden-Württemberg gegenüber Berlin verhalten?
Diepgen: Bei der Hauptstadtentscheidung im Bundestag waren die baden-württembergischen Abgeordneten mehrheitlich für Bonn. Wolfgang Schäuble hielt dagegen eine beeindruckende Rede für Berlin. Und Ministerpräsident Erwin Teufel hat sich als Bundesratspräsident große Verdienste beim Umzug des Bundesrates nach Berlin erworben. Ich erinnere noch, wie ich mit ihm auf der Standortsuche das ehemalige Preußische Herrenhaus besichtigt habe.
Gibt es heute überhaupt noch jemanden, der Bonn zurück will?
Diepgen: Dieses Thema spielt heute keine Rolle mehr. Wir stehen eher in der Diskussion: Wie steht es mit der Aufteilung der Ministerien zwischen Bonn und Berlin? Ich bin der festen Überzeugung: Es wird weiter nach Berlin rutschen. Die Rutschbahn ist allerdings viel flacher, als ich geglaubt hatte. Das Beharrungsvermögen der Bonner ist immer noch erheblich. Die Bundesregierung muss wissen, ob sie unter dem Gesichtspunkt der der Arbeitsfähigkeit diese Zweiteilung aufrecht erhalten will.
1991 müssen auf Sie ja unzählige Baustellen nicht nur im wörtlichen Sinne gleichzeitig eingetrommelt sein. Wie war das zu schaffen?
Diepgen: Also, das waren in der Tat intensive Wochen für alle Mitglieder des Senats. Hauptaufgabe war, die Stadt mental zusammenzuführen. Ich glaube, die entscheidende Leistung der 90er Jahre war, dass es nicht zu sozialen Eruptionen und einem lähmenden Gegeneinander zwischen Ost und West in Berlin kam.
Warum war das so schwierig?
Diepgen: Der Ostteil der Stadt war der Konzentrationspunkt der Eliten der DDR und damit auch der Eliten des Systems. Dieses System hatte immer wieder seinen Griff auf Westberlin gerichtet. Westberlin hat viele Jahre unter dem Damoklesschwert dieser ständigen Bedrohungen gelebt. Es gab also ein jahrzehntelanges Gegeneinander. Das zusammen zu führen war aus meiner Sicht schwieriger als das Zusammenführen der Infrastruktur..
Was waren die Probleme? Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Diepgen: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. In einem Polizeiwagen saßen Beamte, die mit den gleichen Straftätern umgehen mussten. Sie wurden aber unterschiedlich bezahlt, weil die einen im Osten, die anderen im Westen der selben Straße wohnten. Wir haben den Versuch gemacht, die Löhne wenigstens dort, wo die öffentliche Hand dafür verantwortlich war, anzugleichen. Wegen dieser Politik sind wir damals aus der Tarifgemeinschaft des Bundes und der Länder ausgeschlossen worden. Das gehört auch zu meinen Erfahrungen mit gesamtdeutscher Solidarität. Ich halte es übrigens für einen Skandal, dass wir 30 Jahre nach der Wiedervereinigung das Problem bei Tarifen und Renten noch immer nicht gelöst haben.
Ein Problem bestand darin, dass Berlin nach 1990 alles doppelt hatte - von der Uni über die Oper bis zum Zoo. Ihre Linie war, beides zu erhalten. War das mangelnder Mut oder politische Klugheit?
Diepgen: Na, Sie haben mir natürlich ein schönes Stichwort gegeben: Es war natürlich politische Klugheit. Beide Stadthälften waren Aushängeschild ihrer gesellschaftlichen Systeme. Gerade im kulturellen Bereich wurden daher besondere Anstrengungen unternommen. Deswegen gab es nach 1990 eben viele kulturelle Einrichtungen in einer größeren Zahl, als dies in einer Stadt der Fall ist - wobei Berlin von seiner Größe eher mit dem Ruhrgebiet zu vergleichen ist. Wir haben versucht, das alles zu erhalten. Es gab nur eine Schließung einer kulturellen Einrichtung, die des Schillertheaters im Westen. Das hatte sich aber zuvor selbst künstlerisch ruiniert. Diese damals gegen viel Widerstand erhaltene Vielzahl an Einrichtungen ist heute Grundlage für die kulturelle Vielfalt und Attraktivität Berlins.
Das Holocaust-Mahnmal in seiner heutigen Form haben Sie abgelehnt. Was war der Grund?
Diepgen: Zu groß, zu unklar in der Aussage. Doch es ist müßig, das Mahnmal gibt es. Über die Aussagefähigkeit von Denkmälern wurde und wird immer gestritten. Das Konzept ist ja dann durch einen Informationspavillon noch geändert worden. Ich hatte auch die Sorge, das Mahnmal könnte nicht ausreichend gegen Schmierereien und anderen Missbrauch geschützt werden. Da habe ich Gott sei Dank nicht Recht behalten.
Aber Sie stört schon in Berlin, was man "Denkmaleritis" nennt, also die Vielzahl von Gedenkstätten.
Diepgen: Quantität erscheint mir in der Erinnerungskultur nicht das Entscheidende, sondern Qualität. Wir sollten ohnehin einmal grundsätzlich diskutieren, welche Herausforderung unsere Migrationsgesellschaft an die inzwischen eingefahrenen Formen der Auseinandersetzung mit der Geschichte stellt.
Ist die Einheit in Berlin gelungen?
Diepgen: Ich glaube, ja. Zum einen haben wir sie hingekriegt, ohne soziale Eruptionen entstehen zu lassen. Und wir haben eine massive Wanderungsbewegung rein in die Stadt aus allen Regionen Deutschlands - die Dominanz der Schwaben, die wir eine ganze Zeit hatten, existiert nicht mehr ganz so. Wir haben eine erhebliche Zuwanderung, eine Internationalisierung der Stadt. Die Verortung in Ost- und Westteil spielt nahezu keine Rolle mehr.
Aber es gibt auch Westberliner, die sich nach den ruhigeren Zeiten vor 1989 zurücksehnen.
Diepgen: Das hat aber einen anderen Grund: Die Stadt Berlin ist immer mehr zur Metropole geworden. Den Charakter von Metropole im wirtschaftlichen Bereich hat sie noch lange nicht erreicht, aber in der Vielfalt, in der Internationalität schon. Sie ist eine unruhige Stadt. Es gibt Stadtteile, die sind fiebrig. Und einige Berliner sehnen sich nach den angeblich so ruhigen Zeiten von Westberlin zurück. Auch in Ostberlin gibt es Nischen von DDR-Nostalgie.
Füglen Sie sich in diesem neuen Berlin noch wohl? Ist das npoch "Ihre Stadt"?
Diepgen: Ja, ich bin Großstädter. Meine Stadt war immer die Stadt, die nie ist, aber wimmer wird.
Ereignisse wie die Love Parade - macht Sie so was stolz oder sagen Sie, das hätte ich nicht gebraucht?
Diepgen: Ich habe bei der Love Parade nie mitgemacht, aber solche Veranstaltungen gehören zu einer großen Stadt, und ich habe auch damals immer dafür gesorgt, dass diese Veranstaltung stattfinden kann. Das war ja nicht immer leicht. Mit den Massen, die da auftauchen, sind erhebliche Risiken verbunden, wie Duisburg tragisch gezeigt hat.
War Klaus Wowereit ein guter Botschafter Berlins?
Diepgen: Ich finde, für die Attraktivität der Stadt vor allem bei der jungen Generation und die Außenwirkung hat mein Nachfolger ?ne ganze Menge gemacht. Ich sage immer: Der hat in der Pflicht versagt, doch in der Kür war er ganz ordentlich (lacht).
Sie haben bei der Abgeordnetenhauswahl 1990 für die CDU 40 Prozent geholt, 1999 41 Prozent, Ihr Nachfolger 2016 17 Prozent. Wo sind Ihre 24 Prozent hin?
Diepgen: (seufzt) Ich habe jetzt keine Tasse für Kaffeesatz vor mir. Wir haben eben eine Veränderung in der Parteienlandschaft insgesamt. Und speziell zur Union: Ich persönlich bin der Auffassung, dass die Union nicht hinreichend auf ihre Markenkerne "konservativ, liberal und sozial" Acht gegeben hat. Wie sagte einmal ein großer Dichter sinngemäß: "Wer mit dem Zeitgeist verheiratet ist, wird schnell zum Witwer."
Das hat vielleicht auch mit dem Verlust des klassischen Berliner Bürgertums zu tun oder?
Diepgen: Ja. Das klassische liberale Bürgertum ist durch die Nationalsozialisten vertrieben worden, das hat vor allem mit der Vertreibung des jüdischen Bürgertums zu tun. Was nach 1945 übrig geblieben ist, litt im Westteil der Stadt unter einem starken Wegzug von Leistungsträgern, weil sie in Berlin nicht die hinreichenden Chancen hatten, im Osten wurde es planmäßig zerstört. Doch allmählich entwickelt sich in Berlin wieder ein neuer Mittelstand.
Derzeit regiert ja die Linke in Berlin mit. Dadurch ist der Kommunismus nicht ausgebrochen oder?
Diepgen: Wir haben eine Re-Ideologisierung von Parteien links der Mitte. Und das macht sich in Berlin sehr deutlich bemerkbar. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Das wäre ein gesondertes Gespräch wert.
Aber Sie sind ja immer noch die "graue Eminenz" der Berliner CDU, der die Strippen zieht?
Diepgen: Na, na, überhaupt nicht. Ich bin inzwischen Ehrenvorsitzender. Das wird man, wenn man sich nicht mehr einmischen soll.
Wenn Sie in Berlin unterwegs sind: Werden Sie 20 Jahre nach Ende Ihrer Amtszeit noch erkannt und angesprochen und worauf?
Diepgen: Je länger Amtszeiten vorbei sind, desto besser sind sie in Erinnerung der Leute. Bei der Ansprache, die ich erfahre, besteht die hinreichende Balance zwischen Lästigkeit und befriedigter Eitelkeit - Sie sehen jetzt zwar nicht meinen Gesichtsausdruck, doch Sie können schreiben: grinst. Im Ostteil der Stadt wiederum werde ich oft auf die Lohnangleichung angesprochen.
Welche Rolle spielt Politik heute in Ihrem Leben?
Diepgen: Eine immer geringere.
Das glaube ich Ihnen nicht, einem homo politicus wie Ihnen.
Diepgen: Nein, nein, Sie haben natürlich nicht ganz Unrecht. Ich schaffe es immer noch, mich hinreichend zu beunruhigen über politische Entwicklungen und aufzuregen. Aber auch zu freuen, wie über den Tag der Einheit.
- Der 78-jährige Diepgen ist außerhalb der Hauptstadt immer noch der bekannteste Berliner CDU-Politiker und aktuell neben Klaus Wowereit (SPD) der bekannteste Repräsentant der Berliner Stadtpolitik überhaupt.
- Mehr als 20 Jahre lang prägt er die Politik von Deutschlands größter Stadt – als Partei- und Fraktionschef der CDU und als zweimaliger Regierender Bürgermeister.
- Dabei stellt er mehrere Rekorde auf: Regierender Bürgermeister mit der längsten Amtszeit; erster gebürtiger Berliner in diesem Amt; einziger Berliner Regierungschef, der abgewählt wird und später in sein altes Amt zurückkehrt.
- 1984 wird Diepgen als Nachfolger des zum Bundespräsidenten gewählten Richard von Weizsäcker Chef im West-Berliner Rathaus. Bei der Wahl Anfang 1989 verliert er sein Amt an die rot-grüne Koalition unter Walter Momper. Dieser ist just zum Zeitpunkt des Mauerfalls am 9. November 1989 Regierender Bürgermeister.
- Mompers rot-grüne Koalition zerbricht jedoch schon 1991, Diepgen kehrt in sein Amt zurück – als Chef einer Koalition aus CDU und SPD.
- Trotz zahlreicher Krisen hält diese Große Koalition zehn Jahre. Ein Bankenskandal führt im Jahre 2001 zu ihrem Bruch. SPD, Grüne und PDS (heute Linke) stürzen Diepgen und wählen Klaus Wowereit (SPD) zum Nachfolger.
- Diepgen studierte Jura an der Freien Universität und besitzt das Zweite Juristische Staatsexamen. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. -tin
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