Jerusalem. „Wir stehen am Beginn einer neuen Kriegsphase.“ Diese Worte des israelischen Verteidigungsministers Joav Gallant hallten länger nach. Ausgesprochen hat er sie vor den versammelten Piloten und Technikern der Luftwaffenbasis Ramat David im Norden Israels. Nur wenige Stunden danach hoben mehrere israelische Kampfflugzeuge ab, um Ziele der Hisbollah im Süden des Libanon zu bombardieren, darunter auch ein Waffendepot. Donnerstagmorgen wurden dann bei Angriffen der Hisbollah auf grenznahe israelische Dörfer zehn Menschen verletzt, drei davon schwer. Ist das schon der Beginn des großen Kriegs, vor dem alle zittern?
Nach der jüngsten Funkgeräte-Attacke im Libanon wurde am Donnerstag eine Rede von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah mit Spannung erwartet. Die synchron stattfindende Explosion Tausender Pager und Walkie-Talkies, die offenbar vom israelischen Geheimdienst Mossad präpariert worden waren, hatte am Dienstag und Mittwoch mindestens 30 Menschen im Libanon das Leben gekostet und mehrere Tausend Menschen verletzt. Die Hisbollah schwor daraufhin Israel mit Vergeltung.
Nun blickt ganz Israel wieder in den Norden. Man verfolgt die Meldungen der Armee, die Warnungen des Zivilschutzes, jedes Wort der Regierung und des Generalstabs wird auf Anzeichen hin untersucht, ob nun der große Krieg kommt.
Die Grenze zwischen dem nun schon fast zwölf Monate andauernden mittelschwelligen Krieg im Norden und einer vollen Eskalation ist nicht ganz scharf zu ziehen. Der wichtigste Gradmesser ist wohl die Zahl der getöteten Zivilisten. Sollte einer der Angriffe, wenn auch ungewollt, auf einer Seite zu viele Opfer fordern, könnte das die nächste Eskalationsebene auslösen. Es ist eine grausame Rechnung, die Menschenleben als Währung betrachtet und mit einem Wechselkurs versieht – aber es ist eben Krieg.
Wie sich die nächsten Tage entwickeln, ist völlig ungewiss. Laut Orna Mizrachi, Expertin am Institut für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv, sind drei Szenarien möglich:
Szenario 1: Region rutscht in volle Eskalation
Die Region könnte in das Stadium der vollen Eskalation quasi hineinrutschen – so, wie das schon in den vergangenen Monaten geschah. Die Pager-Attacke hat den Konflikt aber auf eine neue Stufe gehoben. „Wir sind einem Krieg in voller Intensität näher, als wir es je zuvor waren“, sagt Mizrachi. Man müsse bedenken, dass die iranische Antwort auf die Tötung von Hamas-Führer Ismail Haniyeh und den Hisbollah-Kommandanten Fuad Shukr im Juli noch ausstehe. Die jüngste Attacke auf Pager und Walkie-Talkies könnte diesen Racheakt beschleunigen.
Szenario 2: Israel kommt Hisbollah zuvor und greift zuerst an
Israel könnte einem großen Hisbollah-Schlag aber auch vorgreifen und die Offensive einleiten, bevor die islamistische Miliz es tut. Das hätte den Vorteil, dass Israels Armee den Zeitpunkt selbst bestimmen und Überraschungsmomente ausnutzen kann. Zudem ist der öffentliche Druck auf die Regierung groß: Mehr als 60.000 Israelis können seit Oktober nicht in ihre Häuser und Wohnungen im Norden zurück, weil sie evakuiert wurden.
Szenario 3: Es bleibt wie in den vergangenen Monaten
Neben den ersten beiden Szenarien gibt es aber noch eine dritte: Dass alles so bleibt, wie es in den vergangenen elf Monaten war: Der konstante Schlagabtausch zwischen Israels Armee und den Milizen der Hisbollah, der sich aber überwiegend auf die grenznahen Gebiete in Israel und dem Libanon beschränkte, würde dann andauern.
Dafür spricht, dass die Hisbollah selbst wenig Interesse hat, tiefer als zuvor in einen Krieg hingezogen zu werden, den die Hamas begonnen hat. Ausschlaggebend ist hier auch die Frage, welchen Schaden die Funkgeräte-Attacke in der Kommandostruktur der Hisbollah verursacht hat. Um dies einschätzen zu können, sei es noch zu früh, sagt Expertin Misrachi. Jedenfalls zeigte die Pager-Attacke, wie überlegen Israels Geheimdienste sind. Es sei ein klares Signal, dass Israel die Spielregeln schnell ändern könne, wenn es das will, sagt der frühere Militärgeheimdienst-Chef Amos Yadlin.
Auf diese dritte Option, die der Eskalationsvermeidung, setzen die USA. Sie wollen um jeden Preis einen vollen Kriegsausbruch verhindern, denn dieser würde auch die USA mit hineinziehen. Ein neuer, höchst unübersichtlicher Krieg im Nahen Osten, mit vielen Fronten und womöglich langer Dauer – das gilt es zu vermeiden. Hinter den Kulissen bauen die US-Unterverhandler intensiv an einer Lösung, die gleich mehrere Fronten beruhigen könnte: Ein Geisel-Deal könnte den Krieg in Gaza beenden, die israelischen Geiseln befreien, und den laufenden Attacken aus dem Libanon und dem Jemen ein Ende setzen.
Einen Schritt in diese Richtung gab es diese Woche: Israel und die USA sollen über einen neuen Plan diskutieren, der in nur einer Waffenstillstands-Phase die Rückkehr aller Geiseln bringen könnte. Im Gegenzug würden nicht nur palästinensische Gefangene enthaftet, Israel müsste auch alle Kampfhandlungen in Gaza einstellen. Voraussetzung dafür ist aus israelischer Sicht, dass Hamas-Führer Yahya Sinwar Gaza verlässt und der Gazastreifen zur entmilitarisierten Zone wird.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Israels Falle