Israels Falle

Jan Jessen ist davon überzeugt, dass Israel mit der Pager-Attacke eine Reaktion der Hisbollah provozieren will, damit der Konflikt weiter eskaliert

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Jan Jessen
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Es war eine Geheimdienstoperation, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Tausende Funkempfänger explodieren im Libanon und in Syrien zeitgleich vor den Gesichtern, in den Händen, in den Hosen, in den Jacken von Hisbollah-Mitgliedern. Fast 3000 Menschen werden verletzt, mindestens zwölf getötet. Unter den Opfern sind neben Hisbollah-Milizionären auch einige Zivilisten, Kinder.

Die Pager und Walkie-Talkies, die am Dienstag und Mittwoch detonierten, hatte die Hisbollah erst vor Kurzem an ihre Mitglieder verteilen lassen. Die Kommunikation über Telefon erschien der Führung der Extremisten nach der gezielten Tötung mehrerer Kommandeure als zu unsicher. Ausgerechnet diese Sicherheitsmaßnahme wurde jetzt zur Achillesferse.

Entsprechend groß sind Verunsicherung und Entsetzen in den Reihen der radikalislamischen Organisation, die seit dem Terror-Überfall der Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres einen unerklärten Krieg gegen Israel führt und täglich den Norden des Landes beschießt.

Der psychologische Effekt der Aktion ist weitaus größer als der physische Schaden, den sie angerichtet hat. Israels Geheimdienste – niemand bezweifelt, dass sie die Operation durchgeführt haben – zeigen: Wir können überall und zu jeder Zeit zuschlagen. Sie zeigen auch, dass sie nach dem Totalversagen vom 7. Oktober wieder zu alter Handlungsfähigkeit zurückgefunden haben.

Diejenigen, die die Aktion abgesegnet haben, verfolgen wahrscheinlich das Ziel, die Hisbollah zu einer wütenden Gegenreaktion zu bewegen. Es ist eine Falle. Sollte die vom Iran finanzierte und gesteuerte Miliz mit einem Schlag antworten, dem Israelis zum Opfer fallen, würden israelische Truppen zwangsläufig in den Süden des Libanon einmarschieren. Der Konflikt würde massiv eskalieren.

Das ist das Wunschszenario der rechtsextremen Falken in der israelischen Regierung. Sie drängen schon seit Monaten auf eine Bodenoffensive, um die Hisbollah mindestens hinter den 30 Kilometer jenseits der Grenze verlaufenden Litani-Fluss zurückzudrängen, also eine Pufferzone zu Israel zu schaffen, oder die Organisation gänzlich zu zerschlagen. In Teilen der israelischen Bevölkerung gibt es für eine solche Eskalation durchaus Sympathien, sind doch etwa 60 000 Israelis gezwungen, seit fast einem Jahr als Binnenflüchtlinge im eigenen Land zu leben, weil die Dörfer und Kleinstädte im Norden des Landes täglich unter Beschuss liegen. Für den innenpolitisch so heftig umstrittenen israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu wäre ein weiterer großer Waffengang die Garantie für sein mittelfristiges politisches Überleben.

Allerdings wäre ein großer Krieg mit der Hisbollah einer, der nicht nur für die Bevölkerung im Libanon enormes Leid und Zerstörung verursachen würde; das gewaltige Raketenarsenal der Schiiten-Miliz ist eine erhebliche Bedrohung für sämtliche Städte und Regionen in Israel. Es sind im Fall einer Eskalation große Opferzahlen auf beiden Seiten zu befürchten. Doch Israels Verteidigungsminister Gallant hat bereits am Tag vor der Pager- und Walkie-Talkie-Operation deutlich gemacht, dass an einer militärischen Lösung aus seiner Sicht kein Weg vorbeigeht.

Die Zeichen in Nahost stehen erneut auf Sturm. Ob die Hisbollah in die Falle geht und sich zu einem massiven Gegenschlag verleiten lässt, wird sich vielleicht schon am Donnerstag zeigen: Ihr Führer Hassan Nasrallah will in einer Rede auf die Ereignisse eingehen. Ob er diese Demütigung kleinreden kann – fraglich.