Berlin. Es ist erst zwei Monate her, da überschreitet Hubert Aiwanger, Chef der „Freien Wähler“ in Bayern, eine neue rote Linie. Aiwanger steht auf einem Podium in Erding, das Mikrofon in der Hand. Hinter ihm sitzt ein Mann in bayerischer Tracht, eine Frau im Dirndl. Daneben ein Plakat: „Stoppt die Heizungsideologie“. Aiwanger, 52 Jahre alt, ruft in die Menge, manchmal brüllt er fast, spricht vom „Corona-Irrsinn“, vom „links-grünen Gender-Gaga“. Und dann sagt er Sätze, für die er später sogar vom Regierungspartner CSU heftig angegriffen wird. Aiwanger spricht von der „schweigenden Mehrheit“ der Deutschen, die „nicht mehr zum Schweigen gebracht“ werden könne. Dann sagt er: „Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit sich die Demokratie zurückholen“ müsse. Und: „Ihr habt ja wohl den Arsch offen da oben.“
Aiwanger selbst ist seit 2018 Vize-Ministerpräsident und bayerischer Wirtschaftsminister. Nach diesen Worten bekam er Applaus von mehreren Tausend Zuschauern. Einer hielt ein Plakat hoch: „Ihr zwingt uns zu gar nichts“. Mit „ihr“ meint er die Bundesregierung. Rede, Applaus, Plakate – all das unterscheidet Aiwangers Auftritt kaum noch von Kundgebungen der in weiten Teilen extrem rechten AfD.
Von „Populismus“ ist nach der Rede in Erding zu lesen, vom „geistigen Brandstifter“. Etwas, das Aiwanger seit Beginn seiner politischen Karriere immer wieder vorgehalten wird. Auch der Koalitionspartner CSU geht auf Distanz. Bayern wählt im Oktober. Radikalisiert sich mitten im Wahlkampf einer immer weiter? Nach diesem Wochenende fragen manche: War Aiwanger immer schon so radikal?
Der Bruder Helmut Aiwanger soll’s gewesen sein
Hintergrund ist ein antisemitisches Flugblatt aus Aiwangers Schulzeit, Ende der Achtziger. Aiwanger war damals 17 Jahre alt. Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet über das Schriftstück, das für einen angeblichen Bundeswettbewerb wirbt: „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“ Als ersten Preis lobt der Autor aus: „Ein Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz.“ Und noch andere zynische und antisemitische Passagen sind in dem Flugblatt enthalten. Die Schule erwischte Aiwanger damals mit diesen Pamphleten in der Schultasche. Und die Zeitung rekonstruiert mit Hilfe eines Gutachters und eines anderen Textes von Aiwanger aus der Zeit, dass es „sehr wahrscheinlich“ von Aiwangers Schreibmaschine geschrieben wurde.
Aiwanger stritt am Samstag zunächst über einen Sprecher ab, überhaupt etwas damit zu tun zu haben. Kurz danach meldete sich sein Bruder presseöffentlich zu Wort. Helmut Aiwanger sagte, er habe das Pamphlet geschrieben. Er distanziere sich, und bedaure. Es ist möglich, dass der Bruder Zugang zu Aiwangers Schreibmaschine hatte. Auch der Bruder war damals auf derselben Schule. Warum Hubert Aiwanger allerdings die Pamphlete in seiner Schultasche hatte und nicht sein Bruder, dafür gibt er keine Erklärung ab. Zweifel bleiben bestehen.
Antisemitisch war Aiwanger bisher nicht aufgefallen. Zugleich attackiert er in seinen Reden „die Elite“ in Berlin, spricht von „Machenschaften“. Das sind Ausdrücke, an denen sich durchaus auch antisemitische Ideologen bedienen. Seit 2006 macht Aiwanger Politik, er kam an die Spitze der Freien Wähler, ohne vorher je ein politisches Amt innegehabt zu haben. Der studierte Agrarwissenschaftler inszenierte sich als Politiker für Fleischesser, für Autofahrer, für Landwirte, für Naturschutz. Und von Beginn griff er politische Gegner in scharfem Ton an, sprach von „korrupten Eliten“.
Kritik an Merkels Euro-Kurs
Wie bei der AfD stand die Kritik an der Euro-Politik von Kanzlerin Angela Merkel zunächst auch im Zentrum der Freien Wähler. 2012 tauchte ein Foto mit Aiwanger und AfD-Politikerin Beatrix von Stroch auf einer Bühne auf.. In einer Rede 2012 rief Aiwanger Merkel entgegen: „Komm rüber, du altes Schlachtross!“ Schon 2006 nannte Söder (damals CSU-Generalsekretär ihn einen „Radikalen“.
Aiwanger machte weiter, sagte Deutschland sei sicherer, „wenn jeder anständige Mann und jede anständige Frau ein Messer in der Tasche haben dürfte“. Selbst von der Polizei kam dazu Kritik. Zu Beginn der Corona-Pandemie sah Aiwanger im Starkbier noch den „natürlichen Feind des Coronavirus“. Er war da Redner auf einem der bisher letzten Starkbierfeste in Niederbayern.
Später warnte der Chef der Freien Wähler vor einer „Apartheidsdiskussion beim Impfen“. Er selbst ließ sich monatelang nicht impfen. Damals war Aiwanger schon Vize-Ministerpräsident. Später hieß es, er lasse das Impfen „auf sich zukommen“. Er sei kein Impfgegner, aber auch kein „Impf-Euphoriker“. Tatsächlich ließ er sich dann doch impfen.
Söder regiert mit Aiwanger inzwischen seit 2018. Aiwangers Freie Wähler sind voll auf ihn zugeschnitten, und Aiwanger auf die Partei. In Umfragen legen die Freien Wähler leicht zu. Als die AfD zu Beginn des Jahres auch in Bayern stärker wurde, setzte Aiwanger mehr auf die Themen der Populisten: Migration und Kriminalität. Er sagt, er wolle die Wählerinnen und Wähler abholen, die zur AfD driften. Doch nach Jahren der Populismus-Vorwürfe und den neuen Details zu dem antisemitischen Pamphlet aus Aiwangers Schulzeit wachsen erneut Zweifel daran, ob die Unterschiede zwischen dem Vizeministerpräsidenten und der AfD noch groß sind.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Hubert Aiwanger hat keine Jugendsünde begangen