Als der heutige stellvertretende Ministerpräsident von Bayern, Hubert Aiwanger, noch ein 17 Jahre alter Schuljunge war, entdeckten die Lehrer ein Pamphlet in seiner Tasche. Ein ausgedachter „Bundeswettbewerb“, der eine Frage beantworten sollte: „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“
Die Wortwahl ist hasserfüllt und neonazistisch
Teilnehmen durfte in der Hetzschrift „jeder, der Deutscher ist und sich auf deutschem Boden aufhält“. Angedacht war in den antisemitischen Gedanken des Verfassers ein „Vorstellungsgespräch im Konzentrationslager Dachau“, in dem zur Zeit des Nationalsozialismus mehr als 40 000 Menschen ermordet wurden. Als ersten Preis lobt der Autor in dem „Wettbewerb“ aus: einen „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“.
Die Wortwahl ist hasserfüllt und neonazistisch. Angeblich – so lassen die Aiwangers verkünden – war es Aiwangers Bruder, der die Schrift damals verfasst hatte. Der jedenfalls meldete sich öffentlich zu Wort, als der Druck auf den Vizeministerpräsidenten und Chef der Freien Wähler in Bayern nun enorm hoch wurde.
Man könnte jetzt sagen: Es war eine „Jugendsünde“, und die Aiwangers waren Teenager in Rage. Das Strafrecht behandelt junge Menschen eben auch deshalb mit Milde, weil Radikalität Teil einer Jugendkultur sein kann. Und bis zu einem gewissen Maß auch sein soll. Was zudem gilt: Bis jetzt wurden keine weiteren antisemitischen Parolen in der Deutlichkeit von Hubert Aiwanger bekannt.
Menschen sollen ja aus ihrer Radikalität rauswachsen können. So wie Joschka Fischer etwa, der einst Steine auf Polizisten schmiss – und später als Außenminister für Kriegseinsätze warb. Nur ist der Fall Aiwanger anders. Der Bayer wächst nicht aus seiner Radikalität heraus – er pflegt sie, seitdem er 2006 als Namenloser an die Spitze der Freien Wähler kam. Er polemisiert, beleidigt, wettert und gibt Verschwörungsideologien Raum. Nicht einmal, sondern mehrfach, immer wieder.
In der politischen Arena ist ein Wettkampf um die lautesten Töne entstanden
Damit liegt Hubert Aiwanger in einem gefährlichen Trend. Demokratisch gewählte Amtsträger bedienen sich immer stärker einer Sprache, die in „Die“ und „Wir“ unterscheidet. „Die“ sind meist „da oben“, die Elite. „Wir“ meist die einfachen Bürger hier unten, die Autofahrer und Fleischesser. Die AfD schlachtet diese Strategie am stärksten aus. Eine Rhetorik, die die eigene Identität an die Nation bindet und damit andere ausgrenzt. Vor allem Menschen auf der Flucht und Migranten.
In der politischen Arena ist ein Wettkampf um die lautesten Töne, die schärfsten Forderungen, die radikalsten Ideen entstanden. Es ist eine Überbietungsspirale. Und am Ende führt sie vor allem zu einem: enttäuschten Bürgern. Denn sie merken schnell, dass hinter markigen Sprüchen oder menschenverachtenden Witzen keine kluge Politik steckt.
Wer die AfD kleinhalten will, darf nicht ihre Rhetorik nachmachen. Die Menschen wählen wie beim Auto lieber das Original anstelle der Kopie. Abgrenzen ist Teil der Lösung, damit die Aiwangers und Chrupallas mit ihren Parolen allein bleiben. Zugleich muss die Politik, die Regierung, ihren eigenen Weg mehr erklären. Heizungsgesetz, Asylpolitik, Industriestrompreis und Kindergrundsicherung – je emotionaler die Themen sind, desto mehr ist Sachlichkeit notwendig. Argumente austauschen, Ängsten zuhören, Fehler zugeben, nachjustieren, weitermachen – das ist moderne Regierungspolitik. Leider kommt auch von dort immer wieder auch Populismus.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Hubert Aiwanger hat keine Jugendsünde begangen
Hubert Aiwanger wächst nicht aus seiner Radikalität heraus - er pflegt sie. Und das immer wieder. Deshalb ist das antisemitische Flugblatt aus den 1980er Jahren auch keine Jugendsünde, meint Christian Unger