Mannheim. Herr Graßhof, Sie haben neben Ihrem neuen Amt Ihren Posten als Präsident des Verfassungsgerichtshofs behalten. Muten Sie sich da nicht ein bisschen viel zu?
Malte Graßhof: Nein. Es ist ein Ehrenamt, das zu meiner Tätigkeit als VGH-Präsident dazukommt. Außerdem ergänzen sich die zwei Gerichte gut, weil sich der VGH auch mit Verfassungsfragen beschäftigt. In Rheinland-Pfalz werden die zwei Positionen zum Beispiel in Personalunion ausgeübt.
Einen Vorteil haben Sie ja: Sie müssen nicht wie Ihr Vorgänger vom schwäbischen Vaihingen nach Mannheim pendeln.
Graßhof: Das ist richtig, ich wohne seit vielen Jahren in Heidelberg. Ich finde es aber nicht nur wegen der kurzen Fahrtstrecke sehr schön, dass der VGH seinen Sitz in Mannheim hat. Die anderen Obergerichte sind mit Ausnahme des OLG Karlsruhe in der Landeshauptstadt ansässig.
Wollen Sie mit diesen Worten jetzt die Kurpfälzer umgarnen?
Graßhof: Nein. Wir sind eine Kontrollinstanz, gerade auch für die Verwaltung in der Landeshauptstadt. Da symbolisiert die räumliche Distanz unsere Unabhängigkeit. Und das hat Charme.
Sie sind Jahrgang 1970, gehören also nicht zum alten Eisen. Ist der VGH-Posten für Sie karrieretechnisch Endstation – oder kann es da auf der Leiter höhergehen?
Graßhof: Ich bin unglaublich froh und stolz, hier zu sein. Ich bekleide das höchste Verwaltungsrichteramt in Baden-Württemberg, bin also schon an der Spitze meiner Laufbahn angelangt. Es gäbe da nur noch theoretische Möglichkeiten.
Zum Beispiel ein Richteramt beim Bundesverfassungsgericht?
Graßhof: Das ist nicht realistisch. Es wäre auch eine ganz andere Tätigkeit. Als VGH-Präsident darf ich mich zusätzlich auch um die Justizverwaltung kümmern, damit die Rechtsprechung funktioniert. Da muss man viel im Hintergrund organisieren. Dagegen ist die Arbeit beim Bundesverfassungsgericht sehr inhaltlich geprägt . . .
Malte Graßhof
- Seit Juni ist Malte Graßhof (53) Präsident des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (VGH), der seinen Sitz in Mannheim hat. Graßhof löste Volker Ellenberger ab, der sich in den Ruhestand verabschiedet hatte.
- Die Feierstunde anlässlich der Verabschiedung und Amtseinführung erfolgte am Donnerstag in Mannheim auf Einladung von Justizministerin Marion Gentges (CDU).
. . . was ja sehr spannend sein kann, wie das Urteil zum Nachtragshaushalt 2023.
Graßhof: Natürlich, mich reizt aber die zusätzliche Aufgabe als Spezialist in der Justizverwaltung.
VGH-Urteile haben in der Vergangenheit die Öffentlichkeit eher selten elektrisiert. Das hat sich in der Pandemie gewaltig geändert. Die Menschen waren direkt von den Beschlüssen betroffen. Ich denke da zum Beispiel an die Aufhebung der Ausgangssperre.
Graßhof: Den Eindruck habe ich auch. Ich glaube, dass unser Ansehen in der Öffentlichkeit gewachsen ist, weil der VGH durch seine Entscheidungen das Bewusstsein gestärkt hat, dass es auch in einer Krisensituation einen zuverlässigen Rechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger gibt. Irritiert hat mich allerdings, dass gewisse Kreise dies bestreiten und ein ganz anderes Narrativ erzählen.
Sie meinen damit die Corona-Leugner?
Graßhof: Ja. Einige haben ihre Position absolut gesetzt und waren enttäuscht, dass nicht jede Corona-Verordnung von uns aufgehoben worden ist. Die Zahlen, die wir grob erhoben haben, belegen, dass der VGH und die Verwaltungsgerichte eben nicht alle Verordnungen durchgewinkt haben, sondern in rund zehn Prozent der Fälle im Sinne der Kläger entschieden haben. Das ist eine Zahl, die zeigt, dass es auf der einen Seite einen wirksamen Rechtsschutz gegeben hat. Auf der anderen Seite kann man nicht sagen, dass es ein systematisches Fehlverhalten der Behörden gegeben hätte.
Man muss dazu ja sagen, dass die Verordnungen aber auch teilweise mit der heißen Nadel gestrickt waren.
Graßhof: Das ist auch notwendig gewesen. Die Behörden mussten sehr schnell reagieren. Wir beschweren uns ja oft, dass der Staat zu langsam und schwerfällig ist. Dann müssen wir ihm aber auch zugestehen, dass Fehler passieren können, wenn er wie in der Pandemie blitzschnell handeln muss. Eine Erfolgsquote der Landesregierung von 90 Prozent ist nicht schlecht.
Wie viele Kläger bekommen denn vor dem Bundesverfassungsgericht recht?
Graßhof: Die Quote liegt bei unter zwei Prozent.
Umso spektakulärer ist der Erfolg der Unionsfraktion im Bundestag. Die Karlsruher Richter haben den Nachtragshaushalt für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Im Gegensatz zu anderen Urteilen wie die zur Grund- oder Erbschaftsteuer hat das Gericht dem Gesetzgeber keinen Spielraum gelassen. Das hat mich überrascht.
Graßhof: Mich nicht. Ich beschäftige mich übrigens schon seit meiner Promotion mit dem Bundesverfassungsgericht. Ein verfassungswidriges Gesetz ist in der Regel auch nichtig. Es gibt allerdings in der Tat Ausnahmen. Zum Beispiel Übergangsfristen, dann tritt ein Gesetz später außer Kraft. Beim Urteil zum Nachtragshaushalt haben die Richter keine besondere Gründe gesehen, um es nicht sofort für nichtig zu erklären. Ich will die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an dieser Stelle aber nicht kommentieren.
Wie nehmen Sie als Richter die politische Debatte über das Asylrecht wahr? Da kommen aus Ihrer CDU . . .
Graßhof: . . . als Richter halte ich mich politisch zurück und würde mich eher als ein nichtaktives Mitglied bezeichnen . . .
. . . krasse Vorschläge wie die Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl. Das verstößt gegen geltende Gesetze. Die müsste man also ändern. Geht das so einfach?
Graßhof: Fast alle Parteien wollen das gegenwärtige Asylsystem reformieren. Die Politik kann natürlich Gesetze und sogar die Verfassung ändern. Das hat sie beim Grundgesetz Artikel 16 in den 1990ern gemacht. Aber es gibt Grenzen, zum Beispiel, wenn der Kern der Menschenwürde betroffen ist. Faktisch ist das Asylrecht inzwischen EU-Recht. Und dann gibt es auch noch die Genfer Flüchtlingskonvention, da sind wir dann beim Völkerrecht. Eine fundamentale Umgestaltung wäre deshalb politisch sehr schwierig. Dafür reicht eine Mehrheit in Deutschland nicht aus. Wir bräuchten dann auch eine in der EU und womöglich einen neuen völkerrechtlichen Vertrag.
Man kann ja auch aus der Genfer Flüchtlingskonvention austreten.
Graßhof: So einfach geht das nicht, solange Deutschland Mitglied in der EU ist. Denn deren Recht baut eben auch auf der Genfer Flüchtlingskonvention auf. Die nationalstaatlichen Handlungsmöglichkeiten sind tatsächlich beschränkt.
Wenn also Bundeskanzler Olaf Scholz Abschiebungen „im großen Stil“ fordert, dann ist das nur Populismus, weil die Gesetze ihm enge Fesseln anlegen?
Graßhof: Das ist jetzt eine sehr politische Frage!
Sie interessieren sich doch auch als Richter sehr für Politik.
Graßhof: Das ist richtig. Was mir an dieser Stelle deshalb wichtig ist: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist aus meiner Sicht kein Hindernis für Abschiebungen. Wir können diese Verfahren auch zügig entscheiden.
Wie bitte? Die Politik klagt doch ständig darüber, dass die Gerichte ewig brauchen.
Graßhof: Wir hatten früher in der Tat einen sehr hohen Berg an Asylfällen. Der Höhepunkt war 2017 mit 48 000 neuen Eingängen. Die Politik hat da aber auch reagiert und der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Spitze 100 neue befristete Stellen bewilligt. Auch deshalb konnte der Bestand auf nur noch 7500 in der ersten Instanz abgearbeitet werden. Dadurch haben wir die Verfahrensdauer seit 2021 von 24 auf zwölf Monate halbiert. Auf dieser Grundlage könnte mehr abgeschoben werden.
Passiert aber nicht.
Graßhof: Noch mal: Das liegt nicht an uns. Hindernisse sind zum Beispiel, dass die Herkunftsländer sich weigern, die Menschen wieder aufzunehmen. Die Bundesregierung will deshalb mit ihnen Abkommen schließen. Das funktioniert aber nicht so gut. Ein weiteres Problem ist, dass oft der Identitätsnachweis fehlt und manche Länder deshalb die Abschiebung nicht akzeptieren. Für all das sind wir aber nicht verantwortlich.
Wie beim Asyl begründet die Politik den schleppenden Ausbau der Windenergie ebenfalls mit der zu langen Verfahrensdauer.
Graßhof: Auch da muss ich Einspruch einlegen. Wir haben inzwischen einen zusätzlichen Senat für Windräder. Selbst wenn wir einen weiteren hätten, würden in Baden-Württemberg nicht mehr Windräder gebaut. Die Probleme liegen nach meinem Eindruck eher in der Planungs- und Genehmigungsphase.
Letztes Thema: Leidet der VGH auch am Fachkräftemangel?
Graßhof: Eher nicht. Es gibt viele Absolventen, die wollen unbedingt zu uns kommen, die finden das Verwaltungsrecht richtig spannend. Bei uns fangen immer wieder auch die Jahrgangsbesten an, als kleine Gerichtsbarkeit haben wir also kein Nachwuchsproblem. Ich hätte aber schon einen Wunsch: Die Verwaltungsgerichte entscheiden seit Jahrzehnten Verfahren aus dem Asyl- und Ausländerrecht und sind für Einbürgerungen zuständig. Da wäre es doch schön, wenn wir auf der Richterbank mal jemand hätten, der aus einer Familie anerkannter Flüchtlinge kommt. Ich wünsche mir mehr Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund.
Sie wollen also eine diversere Richterschaft?
Graßhof: Wenn Sie dieses Schlagwort verwenden wollen: ja. Die Justiz kann zwar nicht Spiegel der Gesellschaft sein. Wir sind eine professionelle Elite im positiven Sinne. Die brauchen wir auch. Aber abkoppeln wäre auch nicht gut. Deshalb wäre es ein Zeichen gelungener Integration, wenn sich mein Wunsch erfüllen würde. Gerade in einer Stadt wie Mannheim ist das ja ein Gedanke, auf den man kommen kann.
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