Freiburg. Manchmal hilft offenbar nur Sarkasmus, selbst wenn man wie Eugen Endress lange Vorsitzender Richter war. „Da reichte der Kuli nicht mehr“ ist so ein Satz voller Sarkasmus, wenn Endress umschreibt, was im Freiburger Ordinariat, der Zentrale der katholischen Kirche, alles unterlassen wurde, sobald ein Missbrauchsfall bekannt wurde. Dann galt: wenig aufschreiben, vertuschen, verschleiern, verleugnen – und das über Jahrzehnte hinweg.
Endress, der pensionierte Oberstaatsanwalt Edgar Villwock und zwei ehemalige Kriminalbeamte bildeten die Arbeitsgruppe „Machtstrukturen und Aktenanalyse“, eingesetzt von der Kommission zur Aufarbeitung des Missbrauchs in der Erzdiözese Freiburg. Vier Jahre hat sie gearbeitet – unabhängig, und es habe auch keine mittelbaren Versuche gegeben, sie zu beeinflussen, versichert Endress ausdrücklich.
Auf sämtliche Akten habe man „umfassenden Zugriff“ gehabt, Mitarbeiter des Ordinariats mussten zuarbeiten. Aber dann kam die erste Überraschung. Bis 1992 und für die Jahre 1998/99 sind sämtliche Protokolle der wöchentlichen Sitzung der Bistumsleitung verschwunden.
Doch was die Gruppe an Akten gefunden hat, reichte ihr für ein hartes Urteil. Es betrifft den 1978 bis 2002 amtierenden, 2008 verstorbenen Erzbischof Oskar Saier und besonders Robert Zollitsch. Der hatte schon unter Saier als Personalreferent eine Schlüsselstellung inne, wurde dann bis 2013 sein Nachfolger. Bei Missbrauchsfällen legte Saier, so Endress, „eine bewusste Ignoranz an den Tag, überließ die konkrete Bearbeitung seinem Personalreferenten und verweigerte die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden“ – etwa, indem er sich darauf berief, dass Seelsorger ja nicht aussagen müssen. Und in einem Protokoll sei festgehalten, man müsse die „Spezialakten“ anders unterbringen, um sie dem Zugriff der Staatsanwälte zu entziehen. „Über meine Priester lasse ich nichts kommen“, habe Saier gedacht und sie mit Hilfe von Zollitsch geschützt.
Als Zollitsch auf den Bischofsstuhl rückte, habe sich das fortgesetzt – selbst dann, als der Papst und die Deutsche Bischofskonferenz die Meldung von Missbrauchsfällen verbindlich forderten. Endress nennt das „vollständige Ignoranz, kanonisches Recht anzuwenden“, also Kirchenrecht. Das sei „ein glatter Rechtsbruch“. Selbst bei rechtskräftig wegen Missbrauchs verurteilten Priester fehlten die Angaben darüber in der Personalakte, Gemeinden und Dekane wurden über die Hintergründe der zu ihnen versetzten Geistlichen nicht informiert – was neue Taten begünstigte. Stattdessen habe er mal über einen straffällig gewordenen Pfarrer gesagt, er habe ihn erfolgreich „versteckelt“.
Knapp 600-seitiger Bericht
Mit spürbarer Fassungslosigkeit schildert er, wie streng Zollitsch – kirchenrechtlich korrekt – mit einem Priester umgegangen sei, der einvernehmliches Sex mit erwachsenen Frauen hatte, also gegen den Zölibat verstieß. Das sei offenbar „verfolgungswürdiger als Missbrauch von Kindern und Jugendlichen“. Wegen Missbrauch rechtskräftig verurteilte Kleriker seien dagegen nicht nur unangetastet geblieben, ja geschützt worden. Geradezu empört zitiert Endress aus Glückwunschschreiben zu Jubiläen, in denen Zollitsch ihnen „segensreiches Wirken“ und „gutes Geschick im Umgang mit Kindern und Jugendlichen“ bescheinigt.
Die Juristen werfen in ihrem knapp 600-seitigen Bericht den früheren Erzbischöfen daher nicht nur Vertuschung, Behinderung der Strafverfolgung und Verstöße gegen kirchliches Recht vor, sondern eine Ignoranz gegenüber dem Leid Betroffener. „Ihr schlimmes Schicksal scheint überhaupt keine Rolle gespielt zu haben“, so Villwock. Sobald in den Kirchengemeinden Missbrauchsvorwürfe hochkamen, seien sie bagatellisiert, Betroffene oder deren Eltern „massivst ausgegrenzt“ worden, so Endress. Auch die von ihm als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz zugesagte Aufklärung und Transparenz habe Zollitsch für sein Haus unterlassen.
„Frohbotschaft pervertiert“
Unter Erzbischof Stephan Burger ab 2014 hat es laut Endress „keine Vertuschungen“ mehr gegeben, ein paar Fälle hätten aber besser dokumentiert und überwacht werden müssen. Da gebe es aber „volle Einsicht“, und die nötigen Maßnahmen seien „unverzüglich eingeleitet“.
„Dass ich Fehler begangen habe, steht für mich außer Frage“, bekannte Burger, schließlich sei er selbst Teil des Systems gewesen – als Offizial, also Leiter des Kirchengerichts. Wo er selbst Fehleinschätzungen erlegen sei, bitte er um Vergebung. Dass seine Vorgänger kirchliches Recht, das Eingreifen und Melden von Fällen vorsah, ignoriert hätten, mache ihn aber „fassungslos“. Das sei „Institutionenschutz, der über alles geht“ und ein „skandalöser Tatbestand“. Hier sei „die Frohbotschaft Jesu eindeutig pervertiert“ worden: „Der Blick für die Betroffenen fehlte zunächst zur Gänze. Ihr Leid, ihre Not und damit auch ihr Lebensschicksal wurden ignoriert und verdrängt!“ Dagegen sagte Burger zu, er werde „strukturelle Schwachstellen beseitigen“, sowie „Aufsicht und Kontrolle verbessern“. Zugleich ermunterte er Betroffene, die sich noch nicht gemeldet haben, „diesen, wenn auch für sie nicht leichten Schritt zu tun“.
„Es ist noch viel zu tun, und wer glaubt, dass es einen Schlussstrich geben könnte unter diesen Aufarbeitungsprozessen, der hat nichts verstanden. Es wird Wunden geben, die nicht verheilen,“ seufzte der Vorsitzende der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Erzdiözese Freiburg, Magnus Striet.
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