Interview

Manne Lucha: „Wenn Tests Geld kosten, geht die Impfquote hoch“

Von 
Karsten Kammholz und Walter Serif
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Sozialminister Manne Lucha auf dem Weg zum Redaktionsbesuch in Mannheim. © Christoph Blüthner

Baden-Württembergs Sozialminister Manne Lucha (Grüne) schließt „Stand jetzt“ Schulschließungen nach den Herbstferien aus. Dies soll mit umfangreichen Tests der Schüler verhindert werden.

Herr Lucha, bisher war die Inzidenz das Maß der Dinge. Wie haben Sie Ministerpräsident Winfried Kretschmann zur Kehrtwende überreden können?

Manne Lucha: Ich musste ihn nicht überreden. Und es war auch keine Kehrtwende. Die Inzidenz ist für uns noch immer sehr wichtig, wir wollen sie deshalb weiter beobachten. Sie ist aber nicht mehr allein entscheidend, weil immer mehr Menschen geimpft sind. Wir schauen jetzt mehr darauf, wie belastet die Krankenhäuser sind und wie viele Menschen auf den Intensivstationen liegen.

Auch wenn Sie von keiner Kehrtwende reden wollen, gab es bisher einen Automatismus: Wenn die Inzidenz über einen Schwellenwert steigt, werden neue Kontaktbeschränkungen verhängt. Das ist jetzt außer Kraft gesetzt worden.

Lucha: Genau. Wir wenden in der neuen Corona-Verordnung des Landes Baden-Württemberg die 3G-Regel unabhängig von der Inzidenz konsequent an. Geimpfte und Genesene müssen sich nur noch an die Maskenpflicht und die Hygiene- und Abstandsregeln halten. Wir geben also den Menschen, die sich und die anderen mit ihrer Impfung schützen, ihre Freiheitsrechte zurück. Die anderen müssen sich dann halt an gewisse Vorgaben halten.

Sie haben angekündigt, dass die Inzidenz als Basisgröße durch einen Mix aus mehreren Komponenten wie dem Grad der Hospitalisierung ersetzt werden muss. Müssten Sie sich da nicht beeilen, denn die Inzidenz steigt ja von Tag zu Tag?

Lucha: Keine Sorge, wir sind schon sehr weit. Obwohl wir bis zur nächsten Verordnung vier Wochen Zeit haben, ist die neue Formel schon so gut wie fertig.

Können Sie da konkreter werden?

Lucha: So viel kann ich schon sagen: Die Sieben-Tage-Inzidenz wird weiterhin eine wichtige Rolle spielen und bei der Risikobewertung neben anderen Faktoren, die das Infektionsgeschehen schnell verändern können, zum Beispiel Impfquote, altersspezifische Hospitalisierungsinzidenzen etc., als gewichtiger Faktor mit einberechnet. Dazu kommt die Belegung der Intensivstationen mit Covid-19-Patienten als Leitwert. Die Risikobewertung wird durch das Landesgesundheitsamt vorgenommen. Es wird ja auch wieder eine neue Ministerpräsidentenrunde geben. Winfried Kretschmann hat jetzt aber für Baden-Württemberg das Heft in die Hand genommen . . .

. . . das ist unüblich für ihn, normal sitzt er doch eher gemeinsam mit den Kollegen in der Gruppe . . .

Lucha: . . . nein, das ist üblich für ihn. Er macht zum richtigen Zeitpunkt die richtige Aktivität. Es gibt andere, die reden immer erst. Ob hinterher dann etwas Richtiges dabei herauskommt, steht auf einem anderen Blatt. Die Ministerpräsidentenrunde mit Kanzlerin Angela Merkel konnte sich vergangene Woche nicht auf eine neue Summenformel mit einheitlichen Messzahlen und Faktoren einigen. Sie konnte sich aber darauf einigen, dass die Inzidenz künftig nicht mehr allein ausschlaggebend sein soll. Der Ministerpräsident hat uns direkt danach einen klaren Auftrag gegeben: Setzt den Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz schnell um.

Warum so schnell?

Lucha: Weil es sich abzeichnete, dass die Inzidenz in dieser Woche über den Schwellenwert 35 steigen würde. Und das hätte ja wieder automatisch Einschränkungen für die Bürger bedeutet, sogar für die Geimpften und Genesenen. Übrigens zeichnet sich schon in den ersten drei Tagen, seitdem die Verordnung in Kraft ist, ein Anstieg der Erstimpfungen um mehr als die Hälfte ab. Genau das wollten wir erreichen.

Wie wollen Sie vermeiden, dass es wieder einen föderalen Flickenteppich gibt, wenn jedes Bundesland eine eigene Formel entwickelt?

Lucha: Was spricht denn dagegen, wenn das, was ein Land tut, das Ergebnis bringt, das es sich von seinem Handeln erwartet? Ich gehe aber nicht davon aus, dass es einen großen Flickenteppich geben wird. Wir sehen uns in einer gewissen Leadership, und ich gehe fest davon aus, dass die anderen Bundesländer unserer Richtung folgen werden. Wir sind uns doch alle einig, dass man die vollständig Geimpften und Genesenen nicht mehr ausgrenzen darf. Ich glaube, dass der Weg, den wir gewählt haben, einfach ist.

Schließen Sie es aus, dass die Schulen nach den Herbstferien wieder dicht gemacht werden?

Lucha: Ja, das schließe ich Stand jetzt aus. Ich werde alles dafür tun, dass wir das mit umfangreichen Tests der Schülerinnen und Schüler verhindern können. Außerdem haben wir ja jetzt zusätzlichen Rückenwind durch die Empfehlung der Ständigen Impfkommission, dass es keine Bedenken gibt, auch die Zwölf- bis 17-Jährigen zu impfen. Wenn es in Schulen zu Infektionen kommt, werden wir nur die Betroffenen und nicht die ganze Klasse herausholen. Und die Lehrer sind ja inzwischen quasi alle schon geimpft. In Klassen, in denen es eine Infektion gibt, werden wir künftig nicht mehr zweimal pro Woche, sondern täglich Tests durchführen.

Warum steht künftig nicht in jeder Schulklasse eine Lüftungsanlage oder ein mobiler Luftfilter? Das Land stellt nur 60 Millionen Euro zur Verfügung. Warum sparen Sie am falschen Ende?

Lucha: Das tun wir nicht. Sie haben doch in jeder Gemeinde eine Kulturkampfdiskussion darüber, was die Luftfilter bringen. Auch die Kommunen als Schulträger selbst haben da keine einheitliche Meinung. Dabei wissen wir, dass Luftfilter in bestimmten Klassenzimmern bei richtiger Aufstellung 99,5 Prozent der Partikel herausfiltern. Und dort sollen sie auch eingesetzt werden. Wir sind da nicht knausrig.

Könnte eine Situation eintreten, in der auch Geimpfte und Genesene wieder Einschränkungen hinnehmen müssen?

Lucha: Ich will und mag es mir nicht vorstellen.

Wäre ein neuer Lockdown für Geimpfte und Genesene rechtlich überhaupt möglich, die Beschränkungen müssten ja dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit genügen?

Lucha: Ich gehe davon aus, dass uns Ihr schöner Verwaltungsgerichtshof, der in dieser wunderschönen Stadt Mannheim residiert, in diesem Punkt nicht folgen würde. Es ist doch ganz klar: Wir haben gegenwärtig Impfdurchbrüche von 0,08 Prozent, in erster Linie sind das Menschen mit einem reduzierten Antikörper- und Immunvolumen. Bei diesen Personen ist der Krankheitsverlauf sehr mild, außerdem stecken sie nur selten andere Menschen an. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir keine neuen Beschränkungen für die Geimpften und die Genesenen erlassen können. Das würde kein Gericht mitmachen.

Ist es politisch und rechtlich auf Dauer durchhaltbar, dass der Staat Impfverweigerern einen Teil ihrer Freiheitsrechte wegnimmt?

Lucha: Natürlich. Der Staat nimmt Impfverweigern keine Freiheitsrechte, er gibt Geimpften und Genesenen ihre Freiheitsrechte zurück. Es gibt keinen Bürgerzwang, dass sie ins Fußballstadion oder in eine Diskothek gehen müssen. Niemand hindert sie daran, ihre Existenz zu sichern, einkaufen zu gehen oder die Straßenbahn mit Maske zu nehmen. Der Staat hat aber das Recht, dafür zu sorgen, dass Nichtgeimpfte nicht unser Gesundheitssystem belasten.

Noch gilt im Land die 3G-Regel. Was passiert, wenn sich das Infektionsgeschehen im Herbst und Winter drastisch verschärft?

Lucha: Dann müssen wir verhindern, dass das Gesundheitswesen zusammenbricht. Wir müssen ja unser Klinikpersonal schützen, sonst haben wir am Ende keinen mehr, der einen Blinddarm operieren kann. Es kann deshalb darauf hinauslaufen, dass Tests nicht mehr ausreichen, um am öffentlichen Leben teilzunehmen. Die Nichtgeimpften müssten in letzter Konsequenz zu Hause bleiben müssen.

So wie bei Fußballvereinen wie dem 1.FC Köln, die schon jetzt in ihren Stadien die 2G-Regel konsequent anwenden?

Lucha: Ja. Wir haben es alle selber in der Hand. Auch diejenigen, die jetzt noch nicht geimpft sind, können entscheiden, ob es für sie stärkere Einschränkungen gibt oder nicht.

Die Kinder bis zwölf haben es noch nicht selbst in der Hand. Können Sie es sich vorstellen, dass auch da die Ständige Impfkommission eine Empfehlung abgeben wird.

Lucha: Ich weiß, dass Biontech mit Hochdruck an der Weiterentwicklung des Impfstoffs arbeitet, da geht es ja vor allem um die Dosierung. Das Unternehmen wird sicherlich eine Zulassung beantragen. Wann genau, weiß ich allerdings nicht.

Würden Sie den Impfstoff für Kinder unter zwölf empfehlen, wenn er auf dem Markt zugelassen wäre?

Lucha: Ja, ich bin ein glühender Impfverfechter.

Auch bei Sechsjährigen?

Lucha: Natürlich.

Wie ist denn der Stand bei der Drittimpfung?

Lucha: Wir beginnen damit am 1. September. Zuerst kommen die Immungeschwächten dran. Es geht also nicht um einen großen Bevölkerungsanteil. Außerdem ist ja genügend Impfstoff da.

Die Impfzentren machen bald dicht.

Lucha: Ja. Wir lassen die Kreisimpfzentren bis zum 30. September stehen. Wir werden aller Voraussicht nach mit 22 mobilen Impfteams, angedockt an den Krankenhäusern, die Regionen abdecken. Die Boosterimpfung ist nicht für jeden erforderlich. Da geht es ja vor allem um Menschen mit besonderen Belastungen, die nicht so viele Antikörper aufgebaut haben. Das wird sich einspielen. Ich gehe davon aus, dass wir uns alle künftig jährlich einmal impfen lassen werden wie bei der Influenza.

Im Oktober werden die Tests kostenpflichtig. Der Schwabe schaut ja aufs Geld.

Lucha: Ich glaube nicht, dass der Badener da anders tickt.

Erwarten Sie deshalb einen Anstieg der Impfquote?

Lucha: Ich glaube schon. Viele Menschen sind bequem, haben es noch nicht verinnerlicht. Wenn Tests Geld kosten, geht die Impfquote hoch.

Ein Bayer im Südwesten

Manne Lucha hat, wie er selbst gern scherzhaft sagt, einen Migrationshintergrund. Der baden-württembergische Sozialminister wurde am 13. März 1961 in der 8000-Einwohner-Gemeinde Garching an der Alz in Oberbayern geboren.

Lucha hat eine eher politiker-untypische Vita: Lehre zum Chemiewerker, Ausbildung zum Krankenpfleger, Masterstudium Management im Sozial- und Gesundheitswesen.

Seit 2011 sitzt er für die Grünen im Landtag. 2016 und 2021 holte er im Wahlkreis Ravensburg das Direktmandat.

Seit 2016 ist er Minister. was

Ehemalige Mitarbeit ehem. Chefredakteur

Redaktion Reporter für Politik und Wirtschaft

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