Frau Eisenmann, im Moment gibt es ein Wettrennen, wer, wann, was öffnet. Bayern die Baumärkte, Rheinland-Pfalz die Musikschulen. Ist das gut?
Susanne Eisenmann: Natürlich brauchen wir in einigen Bereichen ein abgestimmtes Vorgehen. Das funktioniert auch ganz gut. Für den Handel und die Gastronomie sind einheitliche Linien notwendig, um nicht innerdeutschen Tourismus auszulösen. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Bundesländer zu überlegen, was man in Abhängigkeit vom Impfen und Testen schrittweise öffnen kann. Das finde ich richtig. Das müssen wir auch in Baden-Württemberg tun.
Honorieren Wähler aktuell eher die Vertreter der harten Linie oder jene, die den Schwerpunkt auf möglichst schnelles Öffnen legen?
Eisenmann: Jede Position hat Anhänger und Anhängerinnen. Allerdings spürt man, dass sich die überwiegende Mehrheit der Bürger eine Perspektive wünscht. Die Dynamik des Virus ist eine immense Herausforderung, aber einfach abzuwarten, reicht nicht. Wir müssen eine kluge Strategie für den Kampf gegen die Pandemie entwickeln, die die schrittweisen Öffnungen begleitet.
Gefragt ist die Politik auch beim Impfen. Sehen Sie nachvollziehbare Gründe, dass so viel Impfstoff von Astrazeneca liegenbleibt?
Eisenmann: Diesem Impfstoff haftet offensichtlich der Ruf an, er sei nicht voll wirksam. Das ist falsch, hat sich aber in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt. Impfzentren berichten uns, dass manche Menschen auf einen Termin verzichten, wenn sie dieses Produkt bekommen sollen. Die Diskussion ist hoch unglücklich. Da muss man werben und aufklären.
Könnte das Ihre Pläne durchkreuzen, die Lehrer angesichts ihres Risikos schneller zu immunisieren?
Eisenmann: Die Impfung für Lehrerinnen und Lehrer läuft gerade erst an. Ich hoffe, dass die Aufklärung wirkt. Wir brauchen aber dringend eine Lösung für Lehrer ab 65 Jahren. Für die ist der Stoff von Astrazeneca nicht zugelassen, aber einen anderen bekommen sie derzeit auch nicht. Das muss sich dringend ändern, der Sozialminister weiß von diesem Problem.
Viele unserer Leserinnen und Leser fragen, warum Sie nicht zum neunjährigen Gymnasium zurückkehren, um Lernlücken aus der Corona-Zeit zu schließen?
Eisenmann: Zunächst einmal: Viele Eltern sind mit G8 durchaus zufrieden. Solche Strukturdiskussionen bringen immer viel Unruhe und Unsicherheit in die Schulen. Die beruflichen Gymnasien bieten flächendeckend das Abitur nach neun Jahren. Rund 35 Prozent der Abiturienten in Baden-Württemberg erlangen auf diesem Weg die Hochschulreife. Lernlücken lassen sich nach der Pandemie durch eine Umstellung auf G9 ohnehin nicht schließen. Denn die Einführung könnte nur in Klasse 5 beginnen und müsste dann jahrgangsweise aufwachsen. 2030 hätten wir dann flächendeckend G9 an allgemeinbildenden Gymnasien.
Wie kann man die Defizite kurzfristig aufholen?
Eisenmann: Wir bieten Schülern eine freiwillige Wiederholung an, ohne das als Sitzenbleiben zu werten. Die Lehrpläne wurden deutlich entrümpelt und die Prüfungen nach hinten verschoben und verändert. Wir prüfen, in den Pfingstferien wieder die freiwilligen Lernbrückenkurse für Schüler, die entstandenen Wissenslücken schließen wollen, anzubieten. 61 500 Schüler haben dieses Angebot im vergangenen Sommer genutzt und waren sehr zufrieden. Das wollen wir in diesen Sommerferien noch ausweiten.
Seit Montag sind die Grundschüler wieder im Präsenzunterricht. Wie läuft es bisher?
Eisenmann: Die Rückmeldungen zum Wechselunterricht an den Grundschulen sind gut. Es gibt aber verständliche Enttäuschungen, weil sich die Eltern eigentlich die Rückkehr zum normalen Schulalltag wünschen. Für die Schulen ist das Wechselmodell eine große Herausforderung: Sie müssen Präsenz-unterricht machen, Fernunterricht und auch Notbetreuung. Deswegen habe ich die Begeisterung von Verbänden und manchen Politikern für das Wechselmodell noch nie verstanden. Wir setzen da die Beschlüsse der Ministerpräsidenten um. Aber wir müssen diese Phase kurz halten und baldmöglichst in den Grundschulen zum Präsenzunterricht zurückkehren, natürlich unter Pandemiebedingungen und ergänzt durch Infektionsschutzmaßnahmen, Impfungen und mehr Schnelltests.
Was heißt baldmöglichst?
Eisenmann: Wir haben in der kommenden Woche die nächste Abstimmung der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin. Wenn da Kontaktbeschränkungen gelockert werden, ergeben sich daraus neue Handlungsoptionen. Für die Schulen sollten wir uns zutrauen, ab 8. März die nächsten Schritte zu gehen. Und zwar in den Grundschulen, aber auch in den weiterführenden Schulen. Auch da wollen die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern eine Perspektive. Nichts ist so gut wie Präsenzunterricht.
Wie könnte das dann aussehen?
Eisenmann: Wir wollen auch an den weiterführenden Schulen mit Wechselunterricht einsteigen. Eine umfassende Teststrategie macht auch hier schrittweise Öffnungen mit reduzierten Schülerzahlen im Schulgebäude möglich.
Die Schüler aus dem Land schneiden in den Bildungsvergleichen immer schlechter ab. Braucht es nach der Pandemie einen bildungspolitischen Neuanfang?
Eisenmann: Ich weiß nicht recht, was mit einem solchen Neuanfang gemeint sein soll. Das mehrgliedrige Schulsystem ist der richtige Ansatz, weil es die Heterogenität der Schüler am besten abbildet. Bei der Qualität müssen wir in den einzelnen Schularten nacharbeiten, das stimmt. Den Bedarf für eine Revolution sehe ich nicht. Aber wir brauchen mehr Lehrer.
Wie viele Lehrer wären zusätzlich für guten Unterricht erforderlich?
Eisenmann: Ich habe nach wie vor mehrere Hundert offene Lehrerstellen, die zuerst besetzt werden müssen. Dann brauchen wir für gemischte Teams Sozialarbeiter und Schulpsychologen.
Der Druck aus der Wirtschaft wächst, dass es Lockerungen für Einzelhandel und Gastronomie gibt. Welchen Weg befürworten Sie?
Eisenmann: Der Lockdown war notwendig. Dazu stehe ich. Aber klar ist, dass wir jetzt bei den stabilen Werten und den neuen Testmöglichkeiten schrittweise öffnen können. Natürlich mit Auflagen. Den Druck halte ich für nachvollziehbar. Man muss aber abgewogen und vorsichtig vorgehen. Es wäre eine blanke Katastrophe, wenn wir jetzt öffnen und in ein paar Wochen wieder schließen müssten. Auch wer auf Sicht fährt, fährt ja.
Wann kann es flächendeckende Öffnungen geben?
Eisenmann: Wenn das jemand wirklich wüsste, könnte er viel Geld verdienen. Das Virus hat sich verändert. Die Mutanten sind offensichtlich dynamischer unterwegs. Viele wissen aber gar nicht, dass sie damit infiziert sind, weil sie keine Symptome haben. Deshalb ist es so wichtig, anlasslos und breit zu testen. Wenn das geschieht, können wir auch schrittweise breiter öffnen.
Bei der Umstellung der Autoindustrie auf E-Mobilität sind Milliarden notwendig. Was kann das Land da überhaupt leisten?
Eisenmann: Beim Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur kann sich das Land mehr zutrauen, als es bisher gemacht hat. Entscheidend ist jedoch, nicht nur auf den elektrischen Antrieb zu setzen. Ich bin überzeugt, dass der Verbrennungsmotor uns noch lange erhalten bleibt. Deshalb kommt es darauf an, was im Tank ist: Wasserstoff, synthetischer Kraftstoff oder in der Landwirtschaft auch mal Biogas? Diesen Wandel muss das Land stärker und technologieoffen begleiten.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen plant Grenzwerte bei Euro 7, die auf das faktische Aus für Verbrenner hinauslaufen. Ist das Konsens in der CDU?
Eisenmann: Ganz sicher nicht. Ich halte es für falsch, Maßstäbe aufzurufen, die im Grunde nicht umsetzbar sind. Das würde tiefe soziale Verwerfungen auslösen und Arbeitsplätze vernichten. Über das Ziel, deutlich klimafreundlicher zu werden, können wir uns verständigen, aber nicht über diesen Weg. Wenn Umweltschutz zur sozialen Frage wird, haben wir nichts gewonnen.
Die Grünen ziehen mit scharfen Forderungen zum Klimaschutz in den Wahlkampf. Wollen Sie da Paroli bieten?
Eisenmann: Wir müssen ökologische Ziele definieren. Nur müssen sie halt auch umsetzbar sein. Wir müssen auch Spielräume lassen auf dem Weg dorthin. Wenn ich zum Beispiel das Bauen durch weitere Auflagen immer teurer mache, stellt sich die Frage, wer überhaupt noch baut. Bezahlbarer Wohnraum ist die soziale Frage des Jahrzehnts. Die Bedingungen müssen so sein, dass trotzdem investiert wird.
Was ist Ihr ganz persönlicher Beitrag zum Klimaschutz?
Eisenmann: Das fängt im Alltag an, auch bei uns. Beim Reisen nutzen wir selten den Flieger. Wir haben zuhause Geothermie und bemühen uns, Wasser zu sparen und auf Verpackungen zu verzichten. Man muss nicht immer mit dem Auto fahren, es geht oft auch mit Bus oder Bahn. Man muss immer überprüfen, ob man nicht noch mehr zum Klimaschutz beitragen kann.
- Bereits im Sommer 2019 nominierte die CDU Susanne Eisenmann als Spitzenkandidatin für die Landtagswahl in Baden-Württemberg am 14. März. Damit war der Machtkampf mit CDU-Landeschef Thomas Strobl entschieden.
- Eisenmann ist seit Mai 2016 Kultusministerin. Davor war sie elf Jahre Schulbürgermeisterin ihrer Heimatstadt Stuttgart.
- Eisenmann hat in Philosophie promoviert. Verheiratet ist die 56-Jährige mit Christoph Dahl, dem Geschäftsführer der Baden Württemberg Stiftung. Beide haben für den früheren Ministerpräsidenten Günther Oettinger (CDU) gearbeitet. pre
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