Viernheim. Der langjährige Trend setzt sich fort: Auch 2022 ist die Zahl der Apotheken in Deutschland deutlich geschrumpft. In den ersten neun Monaten des Jahres gab es nach einer Berechnung der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) rund ein Drittel mehr Schließungen als im Vorjahreszeitraum. Aktuell sind es bundesweit noch gut 18 000 Apotheken. „Täglich eine Apotheke weniger, die Tendenz ist fallend“, mahnt auch der Viernheimer Pharmazeut Wolfgang Kempf.
Angesichts dieser Entwicklung befürchtet die Stadtverwaltung, dass die Versorgung der Menschen vor Ort leiden könnte und ruft dazu auf, die Viernheimer Apotheken zu unterstützen. „Mit jedem Einkauf entscheide ich, wie ich die Welt haben möchte. Wenn ich die Internet-Apotheken den lokalen Apotheken vorziehe, entscheide ich mich langfristig gegen einen Notdienst in der Nähe, der lebenswichtig sein kann, auch für einen selbst“, sagt Wirtschaftsförderer Alexander Schwarz.
Aufgrund der besonderen geografischen Lage Viernheims kooperieren die neun Apotheken der Brundtlandstadt beim Notdienst mit 15 weiteren Apotheken jenseits der Landesgrenze. Zum Notdienstkreis 119, den die Landesapothekerkammer Baden-Württemberg organisiert, gehören – neben Viernheim – Heddesheim, Ladenburg, Schriesheim und Hirschberg. Der Notdienst dauert jeweils 24 Stunden, von 8.30 Uhr am Morgen bis 8.30 Uhr am darauf folgenden Tag. „Jeder ist alle 16 Tage dran, egal ob Weihnachten, Silvester oder Ostern“, berichtet Wolfgang Kempf. Die Taktung werde immer enger und die Belastung für die Kollegen nehme zu.
Weitere Wege
Nachteile bringt das Apothekensterben aber auch für die Kunden mit sich. Während früher der Notdienst innerhalb Viernheims sichergestellt war, müssen die Menschen nun – wie beim Ärztlichen Bereitschaftsdienst – häufig in eine andere Kommune fahren. Um die Wege dennoch einigermaßen kurz zu halten, haben besonders weit voneinander entfernt liegende Apotheken gemeinsam Dienst. So zum Beispiel die Sonnenapotheke Schriesheim mit der gleichnamigen Apotheke in Viernheim, oder die Rathausapotheke – die Wolfgang Kempf selbst betreibt – mit der Löwenapotheke in Leutershausen. Die Gründe für das immer weitmaschigere Apothekennetz sind Kempf zufolge vielschichtig. Ein Hauptproblem für die Präsenzapotheken sei es, Nachwuchs zu finden. „Auszubildende wandern in die Großindustrie ab. Wer Apotheker werden möchte, braucht Abitur oder Hochschulreife, muss danach acht Semester Pharmazie studieren und kann nach einem Praktikum das Staatsexamen machen“, beschreibt der Apotheker die umfangreiche Ausbildung. Auch die pharmazeutisch-technischen Assistenten ziehen nach seiner Einschätzung mittlerweile die Arbeit in der Industrie der Tätigkeit in einer Apotheke vor.
In den vergangenen Monaten sei mit der Arzneimittelknappheit ein zusätzliches Problem aufgetreten. „Medikamente wie Schmerzmittel, Antibiotika, Fiebersäfte für Kinder oder Mittel gegen hohen Blutdruck sind rar. Bei den meisten Händlern steht hinter den Wirkstoffen ein rotes X, sie sind also nicht vorhanden. Wir müssen täglich recherchieren, ob sich etwas finden lässt“, beschreibt Kempf den zunehmenden Organisationsaufwand. Verantwortlich für die Lieferengpässe seien letztlich Politik und Krankenkassen, die mit Rabattverträgen versuchten, die Preise massiv zu drücken. Dadurch sei die Produktion ins Ausland – vor allem nach Indien und China – gewandert. „Wegen Covid kommt nun nichts mehr zu uns“, beschreibt Kempf die Konsequenzen. „Manchmal scheitert es sogar an fehlenden Verpackungen, um die Medikamente transportieren zu können.“
Finanzielle Schwierigkeiten
Laut Wolfgang Kempf kommen die Apotheker immer häufiger in finanzielle Bedrängnis. Seit mehr als 18 Jahren hätten sich – wegen der Preisbindung – die Einnahmen nicht erhöht. Parallel dazu seien die Personalkosten und zuletzt auch die Ausgaben für Energie deutlich gestiegen, so der Pharmazeut.
Nach Meinung von Wirtschaftsförderer Schwarz können deutsche Präsenzapotheken „nur auf der Basis einer funktionierenden Misch-kalkulation“ wirtschaftlich geführt werden. Wenn ganze Sortimente an den Versand abwanderten, könne die Kalkulation nicht funktionieren, sagt Schwarz. „Versandapotheken agieren dabei wie Rosinenpicker in diesem System, da sie keine Gemeinwohlaufgaben für die Patienten leisten und so Arbeitsplätze in Viernheim gefährden.“
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