Nachkriegszeit - Kommune verändert ihren Charakter / Bauernhäuser müssen Betonbauten weichen / „Identität fällt Modernisierung zum Opfer“

Viernheim wird vom Dorf zur Stadt

Von 
Caspar Oesterreich
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Viernheim. Im Garten von Hans Renner steht heute eine kleine Laube. Darunter liegen seit 75 Jahren zwei Gewehre und ein Stahlhelm vergraben. Diese hatte der damals Zehnjährige gemeinsam mit seinem Bruder zum Kriegsende aus der Scheinwerfer-Kaserne am Mannheimer Weg, den späteren Taylor Barracks, stibitzt. „Das muss in der Zeit zwischen der Befreiung Viernheims am 27. März und dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945 gewesen sein“, erinnert sich Renner.

Viele Viernheimer hätten damals in den Hals über Kopf verlassenen Kasernen der Deutschen „Lebensmittel und andere nützliche Dinge“ geplündert. „Meine Mutter hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als wir ihr die Karabiner und den Helm mit Hakenkreuz gezeigt haben. Wir mussten sie sofort vergraben, es gab ja schließlich auch Durchsuchungen von den Amerikanern“, so der Zeitzeuge.

Über die Grube war längst Gras gewachsen, als Renner die Gartenlaube baute. In den 1970er Jahren, als viele Viernheimer stolz auf das neue Rathaus, das Rhein-Neckar-Zentrum, das DK-Hochhaus oder die Umgestaltung des Spitalplatzes sind. „Die Mannheimer haben immer etwas herablassend auf das Viernheimer Bauern- und Arbeiterdorf geblickt. Mit dem großen Betonbauten wollte man sich das Bild einer modernen Stadt geben“, erklärt Heinz Klee vom Freundeskreis Heimatgeschichte.

1948 stellte Viernheim den Antrag, sich Stadt nennen zu dürfen. „Die Gemeinde war das größte Dorf Hessens“, sagt Klee. Während Mannheim und Ludwigshafen durch den Krieg in Schutt und Asche gelegt wurden, seien nur wenige Bomben auf Viernheim gefallen. „Nur in der Blauehut-, Alexander-, Neuhäuser und Weinheimer Straße hat es gen Ende ein paar Mal gekracht“, berichtet Renner.

Aufbruch, Abbruch, Ausdehnung

Durch den Aufstieg vom Dorf zur Stadt hoffte man, als Nachbarort des zerstörten Mannheim die dort arbeitenden Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler als Einwohner zu gewinnen. „Bauliche Ziele waren die Osterweiterung, ein neuer Stadtkern und ein Waldstadion“, berichtet Gisela Wittemann, Leiterin des Museums Viernheim. Es habe eine Stimmung von „Aufbruch, Abbruch und Ausdehnung“ geherrscht.

Nach der Ernennung zur Stadt sollte das Ortsbild rasch auch einen städtischen Charakter gewinnen. „Mit Bundes- wie Landeszuschüssen und aufgrund des Wirtschaftsaufschwungs konnten Kommune und private Bauherren den städtebaulichen Zeitgeschmack zügig umsetzen“, erklärt Wittemann weiter. Die Stadt war durch ihre gute Verkehrsanbindung und die Ansiedlung von kleinen und mittelständischen Betrieben wohlhabend. Größter Arbeitgeber war die Textilfabrik Fourman. „Nach den Kriegsflüchtlingen suchten dann auch Gastarbeiter und auswärts Beschäftigte in Viernheim bezahlbaren Wohnraum“, so die Museumsleiterin.

Ende der 1960er Jahre begann die Modernisierung der Innenstadt. Das Alte Rathaus, links daneben der Ehatt’sche Gutshof und der Ratskeller gegenüber mussten weichen. „Das Alte Rathaus, die Fachwerkhäuser waren zu klein. Man wollte mehr Offenheit, mehr Fenster. Man wollte was Modernes“, sagt Klee.

Ebenso riss man die Tabakscheune und die angrenzenden Gebäude am Spitalplatz ab. „Die Scheune gehörte ursprünglich dem Juden Sigismund Weißmann. Während der NS-Diktatur musste er sie für 13 000 Reichsmarkan an einen ,arischen‘ Viehhändler verkaufen“, erzählt Wittemann. Am 19. Februar 1940 wanderte die Familie Weißmann nach Barun in die USA aus.

Während der Bau des Rhein-Neckar-Zentrums 1972 die Ladeninhaber in der Innenstadt verärgerte, wurden überall in Viernheim alte Bauernhäuser durch große mehrgeschossige Gebäude ersetzt und Freiflächen in Hinterhöfen bebaut. „Der Modernisierung fielen einige Gebäude zum Opfer, die der Stadt ein Stück Identität hätten geben können“, sagt Wittemann.

Es entwickelten sich Neubaugebiete in alle Himmelsrichtungen, die ihre planerischen Arbeitstitel behielten. „An der Ecke Karl-Marx-/Mannheimer Straße hatte der Kindergarten Maria Ward seinen Spielplatz. Ich weiß noch genau, wie wir in den 50ern den amerikanischen Soldaten immer ,Tschuing Gam‘ zugerufen und auf Kaugummi gehofft haben“, erinnert sich Klee. „Heute steht dort ein großer Wohnkomplex.“

Kriegsende vor 75 Jahren

Viernheim wird nach dem Krieg zur Stadt

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