An diesem Mittwoch berät der Schriesheimer Gemeinderat über den gemeinsamen Antrag von SPD und FDP, jeweils einen Platz nach dem langjährigen Bürgermeister Georg Rufer und dem ersten badischen Staatspräsidenten Anton Geiß zu benennen (wir haben berichtet). Im Vorfeld dieser Beratung stellt der „MM“ die beiden Namenspaten vor. Diesmal Anton Geiß.
Jener Anton Geiß ist nämlich eine herausragende historische Persönlichkeit. Nach Ende des Ersten Weltkriegs steht er an der Spitze Badens – ein Gründervater der deutschen Demokratie im Südwesten, quasi der „Friedrich Ebert Badens“. Und seinen Lebensabend verbringt er in Schriesheim, wo er begraben ist.
Geboren wird er jedoch 1858 als Sohn eines Landarbeiters im Allgäu. Seine 17 Wanderjahre führen den jungen Schreiner durch Deutschland und die Schweiz und schließlich 1891 nach Mannheim. Wie viele Handwerker in jener Zeit, so betreibt auch Geiß hier als zweites Standbein eine Gastwirtschaft – und zwar zunächst ab 1895 im Innenstadt-Quadrat T 5, 1, unweit der historischen ersten Garage von Carl Benz in T 6.
Noch heute Hirsch-Figur sichtbar
1905 wechselt Geiß auf den „Hirsch“ in S 1, 15 – das heutige Kult-Lokal „Vienna“. Die Hirsch-Figur und der Namenszug oberhalb des Türrahmens erinnern noch immer daran. Manche später berühmte Persönlichkeit kehrt hier ein, auch der künftige Reichspräsident Friedrich Ebert, der ja in Heidelberg zu Hause ist.
Denn im Jahr seiner Ankunft in Mannheim tritt Geiß der SPD bei, beginnt eine steile Karriere: Stadtverordnetenversammlung, Stadtrat, schließlich Landtag in Karlsruhe, dessen Erster Vizepräsident er wird. Als solcher gehört er nun zum Establishment des Großherzogtums Baden. Den „Hirsch“ hat er zu diesem Zeitpunkt längst abgegeben.
Seine historische Stunde schlägt am Ende des Ersten Weltkriegs. Inzwischen Landesvorsitzender der badischen SPD, wird Geiß am 9. November 1918 in Karlsruhe zum Vorsitzenden der „Vorläufigen Volksregierung“ ernannt – in Abwesenheit übrigens, denn er befindet sich gerade in Mannheim; dort erhält er per Telegramm die Nachricht: „Komm sofort nach Karlsruhe. Du bist Ministerpräsident!“ Nach Abdankung des Großherzogs fünf Tage später trägt er den Titel „Staatspräsident“.
Im Alter von 60 Jahren wird dieser einfache Mann vom Lauf der Zeit in eine dramatische historische Situation gestellt: Hunger, Not, Massenarbeitslosigkeit durch Demobilisierung des Millionenheeres. Dank seiner besonnenen Politik können Todesopfer, wie sie in den Straßen von Berlin oder München zu beklagen sind, in Baden vermieden werden.
Geiß setzt hier – wie sein Parteifreund Ebert auf Reichsebene – die Bedürfnisse der Menschen vor Partei-Ideologie. Das praktische Funktionieren des öffentlichen Lebens in den Bereichen Ernährung und Versorgung sowie der Aufbau demokratischer Institutionen sind ihm wichtiger als gesellschaftliche oder ökonomische Umwälzungen.
Die von ihm auf den Weg gebrachte neue Verfassung Badens orientiert sich an der benachbarten Schweiz. Wie dort, ist der Staatspräsident in der Regierung primus inter pares (Erster unter Gleichen) und wird jährlich neu gewählt. Geiß wird der Erste auf diesem Posten, im Jahr darauf bestätigt. 1920 gibt er das Amt an einen Zentrums-Politiker ab.
Danach zieht Geiß sich aus der aktiven Politik zurück. Seine Wohnung in Karlsruhe gibt er auf, kehrt zurück nach Mannheim, zieht 1933 nach Schriesheim. Hier gibt es ein Pflegeheim des Landkreises, in dem seine kranke Frau die nötige Betreuung erhält. Zudem hofft er, in der Abgeschiedenheit der Bergstraße die NS-Zeit unbeschadet zu überstehen.
Das gelingt weitgehend, auch wenn ihm die Nazis seine Pension streichen. Geiß stirbt friedlich am 3. März 1944 im gesegneten Alter von 85 Jahren. Nur um ein Jahr verpasst er die Befreiung Deutschlands von der Diktatur des Nationalsozialismus und das Wiedererstehen des demokratischen Badens, ab 1952 als Teil des neuen Südweststaats.
Eine offizielle Würdigung des toten Staatsmanns durch den zum NS-„Gau“ degradierten Badischen Staat erfolgt 1944 natürlich nicht. Erst anlässlich seines 75. Todestages 2019 wird dies nachgeholt: im Namen der Landesregierung durch Wissenschaftsministerin Theresia Bauer bei einem von Bürgermeister Hansjörg Höfer ausgerichteten Festakt im Zehntkeller. Das Grab von Geiß befindet sich auf dem Friedhof von Schriesheim, seit 2016 eine Gedenktafel an seinem letzten Wohnsitz in der Altstadt – auf Anregung von SPD-Altstadtrat Frieder Menges.
An seinem einstigen Gasthaus in Mannheim erinnert jedoch nichts an den berühmten Vorbesitzer – ebenso wenig wie sonst in dieser Stadt seines anfänglichen Wirkens. Dafür soll dies nun in Schriesheim erfolgen, angeregt von Ingo Kuntermann: durch Benennung des Platzes vor dem Historischen Rathaus, direkt gegenüber seinem letzten Wohnsitz Heidelberger Straße 14.
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