Mannheim. Dienstag, 1. August, 18 Uhr. Tag 1 nach der Zäsur geht zu Ende. Zeit für das Pressegespräch. Und für die Frage, die natürlich kommen muss: Wie war dieser Tag? „Wie ein Feiertag“, lacht Monika Sinn. Und Ehemann Jürgen ergänzt eher nachdenklich: „Eine Last ist von einem abgefallen.“
Doch so ganz haben sich die zwei noch nicht an die neue Situation gewöhnt. „Bisher habe ich ja gegen drei Uhr morgens angefangen“, berichtet Jürgen Sinn. „Obwohl ich heute ausschlafen könnte, bin ich jedoch um zwei wach geworden.“ Er dreht sich zwar noch einmal um. Aber das hilft nichts. Um halb vier ist die Nacht vorbei, er steht auf, „die Katzen füttern.“ So einfach ist es nicht, von 100 auf null zurückzufahren.
Auch nicht für seine Frau. „Ich bin immer um halb vier aufgestanden“, erzählt sie. „Ab halb fünf hab’ ich unten eingeräumt. Um sechs bin ich hoch, einen Kaffee trinken, und um 7 Uhr wieder runter.“ Tag für Tag. Besonders hektisch läuft es vor Weihnachten: „Das war Hardcore“, kann sie heute darüber schmunzeln.
Metzgerei Sinn schließt: 122 Geschichte gehen zu Ende
Gut 30 Jahre haben die beiden die Metzgerei in der Lüderitzstraße in Rheinau-Süd geführt. Am Montag, 31. Juli, zum letzten Mal. Bezieht man die Keimzelle ihres Betriebes in Brühl mit ein, so gehen damit 122 Jahre Firmengeschichte im Süden der Stadt zu Ende. Ein tiefer Einschnitt, vor allem für die Familie Sinn, aber auch für den Ortsteil Rheinau-Süd und für die Geschichte des Handwerks in Mannheim.
Man schreibt das Jahr 1901, als Jürgen Sinns Urgroßvater Robert sich in Brühl als Metzger selbstständig macht. Als 1933 die IG-Siedlung errichtet wird, entsteht ein neuer Markt. Die Oma fährt mit dem Fahrrad an und verkauft aus dem Korb heraus Wurst und Fleisch. Bald wird daraus ein Ladengeschäft, geführt von Robert Sinn jr. und Sohn Willi.
Die Nachkriegszeit - goldene Zeiten für Metzgereien! 1961 wird in der damaligen Karl-Peters-Straße eine weitere Filiale eröffnet. Damals wird vor Ort sogar selbst geschlachtet, vor allem Schweine. „Schlachttag war Montag“, erzählt Jürgen Sinn. Sein Betrieb ist 1984 einer der letzten, der das Vor-Ort-Schlachten aufgibt.
Metzger Jürgen Sinn tritt in die Fußstapfen seines Vaters
1991 die Zäsur: Willi Sinn stirbt, im Alter von nur 56 Jahren. Seine Witwe führt den Betrieb weiter, auch Sohn Jürgen ist dabei. Denn auch er ergreift diesen Beruf - aus Neigung oder gezwungenermaßen? „Man ist hineingewachsen“, sagt er diplomatisch. Doch irgendwie könnte er sich damals auch eine andere Tätigkeit in der Lebensmittelbranche vorstellen. „Aber natürlich haben es die Eltern gerne gesehen“, räumt er ein.
Ich habe gleich gesagt: Die muss ich haben!
Ein Glück für ihn, dass er eine Frau findet, die dazu passt. Monika Bayer will eigentlich in eine Bäckerei. Doch in dieser Branche sind damals keine Stellen frei. Also wählt sie eine andere, die Metzgerei. Und fängt 1982 mit 18 bei Sinn an. Sie und der Junior verlieben sich. „Ich habe gleich gesagt: Die muss ich haben!“, sagt Jürgen Sinn mit liebevollem Blick zu seiner Frau. 1993 steigt die Hochzeit - am Maifeiertag. Auch dies dem Betriebsablauf geschuldet.
In den 30 Jahren seither erleben die Sinns den ganzen Wandel des Kundengeschmacks. „Es wird nicht mehr so viel Fleisch konsumiert wie früher“, sagt Jürgen Sinn. „Das betrifft vor allem Braten und Gulasch“, ergänzt seine Frau. Besonders hart trifft es das Rindfleisch: „Vom BSE-Skandal hat sich unsere Branche nie so richtig erholt“, sagt er. „Geflügel dagegen läuft nach wie vor gut.“
Corona hilft der Metzgerei Sinn
Und dann kommt auch noch Corona: Bedienen nur mit Maske, monatelang. „Die erste Woche war hart“, berichtet Monika Sinn. „Aber dann ging es überraschend gut. Der Mensch gewöhnt sich an so vieles“. Abgesehen davon gibt es einen positiven Nebeneffekt: „Wir wurden mit Anderem nicht krank“. Sprich: Erkältungskrankheiten, die man sich im Verkauf sonst oft einfängt, bleiben dank der Masken aus. Und auch geschäftlich sind die Corona-Jahre durchaus gute für die Metzgerei: „Die Leute wollten nicht in große Supermärkte mit vielen Menschen.“
Aber natürlich spürt eine kleine Metzgerei diese Konkurrenz. Eine treue Fangemeinde bleiben dagegen die Arbeiter, die ihr Frühstück oder Mittags-Vesper holen. „Viele machten eigens einen Umweg, um bei uns zu kaufen“, berichtet Monika Sinn.
Ein gutes Miteinander gibt es mit den Vereinen vor Ort. Der Sport-Club Rot-Weiß benennt ein Turnier nach Willi Sinn, der dort lange Fußball gespielt hat. Die Sinns versorgen die Vereinsfeste mit Würstchen und Steaks - und sind flexibel: „Wenn sie bei Veranstaltungen am Wochenende ausgingen, sind wir halt auch am Sonntag runter in den Laden.“
Seit 1987 keine Betriebsferien in der Metzgerei Sinn
Der bestimmt eben ihr ganzes Leben. „Seit 1987 gab keine Betriebsferien“, berichtet Jürgen Sinn. Drei Wochen Urlaub, das wäre eben nicht drin. „Acht Tage war das höchste“, berichtet er. „Aber wir beklagen uns nicht“, versichert seine Frau.
Den ganzen Winter etwa denkt man: Hoffentlich wird niemand von uns krank.
Nein, Arbeit, auch harte, das macht beiden nichts aus. Doch die Verantwortung, die am Laden hängt, die macht zunehmend zu schaffen. „Den ganzen Winter etwa denkt man: Hoffentlich wird niemand von uns krank“, erläutert Jürgen Sinn. Doch auch ohne Krankheitsfälle: Es fehlt Personal. „Seit 3. Januar stehe ich alleine in der Wurstküche“, berichtet er. „Im Winter ist es dort eisig kalt. Da muss man sich selbst schon sehr motivieren“. Hinzu kommen die gestiegenen Kosten, sowohl für die Waren als auch für Energie.
Ende eines Familienbetriebs: Sinns finden keine Nachfolger
Insofern reift bei Sinns seit dem vergangenen Jahr der Entschluss aufzuhören. Eine Übergabe an die nächste Generation scheidet aus. Die Kinder haben andere Berufe: Der Sohn ist Leiter einer Lagerlogistik, die Tochter Industriekauffrau.
Auch eine Vermietung des Ladens ist keine Alternative. Denn natürlich müsste er modernisiert werden, 150 000 Euro wären fällig. Und weiß man, wer dann kommt? „Wenn‘s schief geht“, sagt Jürgen Sinn, „das würde doch auf den guten Ruf abfärben, den wir uns in vielen Jahrzehnten erworben haben.“
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Dennoch, der letzte Tag ist emotional. Viele kommen mit Geschenken, Blumen, Weinflaschen. Und auch geschäftlich ist er ein Erfolg: „Zehn Fleischkäse gingen weg“, staunt Jürgen Sinn noch immer. Und immer wieder der Satz: „Schade, dass Ihr aufhört.“ Doch Jürgen Sinn mag sich eine Überlegung nicht verkneifen: „Wenn manche von denen, die das jetzt schade finden, früher öfter gekommen wären, dann wäre es für uns einfacher gewesen.“
Was macht er nun? Am 14. August wird er 60 - zu jung, um in Rente zu gehen, zu alt, um etwas völlig Neues zu beginnen. Fachkräfte auch im Lebensmittelhandwerk werden zudem händeringend gesucht. So wird er in diesem Bereich weiter tätig sein, nurmehr angestellt - „ohne Sorgen, Ängste, Nöte der Selbstständigkeit.“
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