Mannheim. Verkehrte Welt beim Figurentheater: Auf Stühlen, wo üblicherweise Kinder sitzen und gebannt auf zu märchenhaftem Leben erweckte Stab-Puppen schauen, haben Könige, Prinzessinnen, Tiere, sogar Gespenster Platz genommen - weil Corona die Puppenspiele, wie so viele Kultureinrichtungen, mit einem Bann belegt hat. Und so nutzt das Team die weggebrochene Aufführungssaison für Arbeiten, die in der Vergangenheit wegen Zeitmangel oftmals verschoben wurden: beispielsweise Figuren-Dokumentation fürs Archiv.
„Es geht aber auch darum, dass wir zusammenkommen, die Gruppe nicht gänzlich auseinanderfällt“, erläutert der pensionierte Schulrektor Heinz von Neuenstein, der seit fünfeinhalb Jahrzehnten zum Ensemble aus Leidenschaft gehört - erst als Helfer, Beleuchter, Zuarbeiter, dann als Spieler. Dass sich im Fundus inzwischen um die 300 Figuren tummeln, von denen viele schon „eine kleine Ewigkeit“ nicht mehr in aktuellen Inszenierungen zu sehen waren, hat den Theaterleiter selbst erstaunt. Es gibt sogar noch drei komplette Puppensätze aus den 1960er Jahren, als das Ensemble auf Reisen ging - ehe der umgebaute U 2-Schulkeller als festes Domizil zur Verfügung stand.
Augsburg bekundet Interesse
Die allerersten am Stab geführten Figuren, erzählt von Neuenstein, stammen von Klassen der Freien Mannheimer Akademie und vom dort lehrenden Bildhauer Gerd Dehof, der später das Blumepeter-Denkmal für die Kapuzinerplanken gestaltete. Bis zu zwei Kilo wogen die anfänglich 80 bis 90 Zentimeter großen, meist üppig gekleideten Gesellen. Seit Wochen fotografiert und dokumentiert Dirk Nowakowski all die geschichtsträchtigen Akteure aus Klassikern wie „Zwerg Nase“, „Der gestiefelte Kater“, „Bremer Stadtmusikanten“, „Gespenst von Canterville“, „Vom Fischer und seine Frau“ oder dem „Sommernachtstraum“. Für manche dieser mehrfach inszenierten Stücke gibt es unterschiedliche Figurensätze, die von veränderten Spiel-Philosophien künden.
Das Ensemble, zu dem außerdem seit drei Jahrzehnten Niko Vakalakis und seit ihrer Kindheit Anna von Neuenstein gehören, hat wegen Platznot beschlossen, für einige der Fundus-Figuren ein neues Zuhause zu suchen - vorzugsweise in Museen. „Aber die sind meist proppenvoll“, weiß Heinz von Neuenstein. Umso mehr freut er sich, dass die Augsburger Puppenkiste Interesse an der Komplett-Ausstattung einer Inszenierung signalisiert hat. Inzwischen reifte im Team die Idee, nicht mehr eingesetzte Figuren gegen eine Spende an Liebhaber abzugeben - beispielsweise an Familien, die sich in der U 2-Unterwelt seit Generationen ins Reich von Fabeln und Fantasie entführen lassen. Mal mit Guckkastenbühne, dann wieder in offener Spielweise. Welche Gesellen oder auch Dekostücke für eine Weitergabe ausgewählt werden, will die Bühne nach dem Sommer auf ihrer Homepage bekannt geben.
Im Herbst hoffen die Spieler, wieder mit Puppen zu agieren zu können statt sie lediglich zu archivieren. Dann soll endlich Mathildes Nachbar die ganz Kleinen ab drei Jahren mit lustigen Streichen begeistern. Klar, dass auch jenes freundliche Gespenst auftauchen wird, das sich schon beinahe drei Jahrzehnte lang mit der heiß geliebten Mädchenfigur die Küche teilt. Vor Corona war gerademal ein Sonntag für die Vorpremiere geblieben - dann drehte der Lockdown die Lichter aus.
„Wir hoffen natürlich darauf, dass viele Familien kommen, wenn wieder Vorstellungen möglich sind“, formuliert Heinz von Neuenstein den Wunsch des Teams. Noch eine weggebrochene Spielzeit sei wirtschaftlich kaum zu verkraften. Natürlich habe man ein Hygiene-Konzept ausgetüftelt. Und bis es endlich wieder soweit ist, gilt der legendäre Spruch einer alten Zwerg-Nase-Inszenierung: „Sapperlot, ist das eine Aufregung!“
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