Mannheim. Mit der Einwanderung türkischer Arbeitsmigranten in den 1960er Jahren fanden Angehörige anatolischer Minderheiten wie der Zaza-Aleviten in der Region eine neue Heimat. Nach Jahrhunderten, geprägt von Pogromen und Ausgrenzung, konnte die Gemeinde in Mannheim aufblühen und pflegt nun mit einer Vielfalt an Vereinsaktivitäten die kulturellen und religiösen Überlieferungen aus ostanatolischen Bergregionen. „Ich lebe hier - ich nehme meinen Platz ein“, reflektiert Psychologin und Psychotherapeutin Nuran Aras ihre emotionale Bindung zu Mannheim und Ludwigshafen, also zu zwei Städten, in denen sie aufwuchs und ihre Kindheit verbrachte.
Aras Vater kam in den 60er Jahren als Gastarbeiter aus dem ostanatolischen Tunceli nach Ludwigshafen, seine Tochter Nuran erblickte dort 1974 das Licht der Welt. Für den jungen Mann, Angehöriger des Stammes der Zaza-Aleviten, war neben wirtschaftlichen Aspekten auch der Wunsch nach einem Leben ohne Verfolgung, ohne politische Konflikte Grund für seine Auswanderung aus der Türkei.
Zaza-Kultur gilt als liberal
In dem einstigen Vielvölkerstaat werden drei bis vier Millionen Personen zur Ethnie der Zazas gerechnet, Teile der alevitischen Zazas verstehen sich nicht als Muslime - auch wenn sie von Sunniten wegen der Nähe mancher Glaubensrituale zum schiitischen Islam gerechnet werden. Auch wenn die Mehrheit der Zaza-Aleviten einst in der Stadt Tunceli lebte, nennen die Zaza es wie ihre Vorfahren auch Dersim, womit sie ihren Unmut gegenüber der Umbenennung durch den Gründer der Republik, Mustafa Kemal Atatürk, zum Ausdruck bringen.
Aras und andere Mannheimer Zazas, die sich im Verein Bone Kulture Ma - das heißt auf Deutsch: Haus unserer Kultur - engagieren, möchten mit ihren Angeboten ihre Kultur, ihre Muttersprache Zazaki und die mündlich überlieferten religiösen Rituale für nachfolgende Generationen bewahren: „Nicht umsonst nannten wir unseren Verein Bone Kulture Ma. Für die in Mannheim und der Region geborene junge Generation von Zaza-Aleviten und ihre Eltern wie auch für ihre Großeltern sind wir ein Haus, eine Familie, hier kommen wir zusammen, hier halten wir unsere Jahrhunderte alten Traditionen und Überlieferungen am Leben“, erklärt Aras, die zudem seit vielen Jahren als Regionalpolitikerin bei den Grünen für mehr soziale Gleichheit und Bildungsgerechtigkeit einsteht.
Die Zugehörigkeit zur liberalen Zaza-Kultur und zum Alevitentum ermöglichten Familie Aras und anderen Zaza-Familien der Region eine zügige Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Frauen und Männer sind bei Zaza-Aleviten gleichberechtigt, die Berufstätigkeit von Frauen ist akzeptiert und wird vom Familienverbund aktiv gefördert. Auch Aras’ Mutter arbeitete wenige Jahre nach ihrer Ankunft in Ludwigshafen, die Anpassung gelang ihr ohne Schwierigkeiten.
Die Familie und andere eingewanderte Zazas wissen an ihrer neuen Heimat zu schätzen, dass sie - anders als in der Türkei - ihre Zaza-Sprache ohne Angst vor politischen Konsequenzen sprechen und ihren alevitischen Glauben leben dürfen. Nuran Aras verdankt ihren liberalen Eltern das Erlernen der türkischen, deutschen und zazaischen Sprache und einen ehrgeizigen Bildungsaufstieg zur Psychotherapeutin.
Aras war Mitglied im Mannheimer Gemeinderat
Als nicht ganz einfach empfindet sie in der Rückschau das Zusammenleben mit den eher konservativ geprägten Türken der Region: „Im Türkischunterricht wollte unser Lehrer uns stur Koransuren aufsagen lassen. Ich war die einzige Zaza-Alevitin im Kurs und hatte vor jeder Stunde Angst dranzukommen.“ Die Religionspraxis der Zaza besteht nicht aus Kenntnissen des Korans, sondern aus mündlich überlieferten Ritualen.
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Die Erfahrung der Ausgrenzung von der türkisch-sunnitischen Mehrheitsgesellschaft, die Angst vor einer Aufdeckung der abweichenden Identität prägten sich damals in Aras Gedächtnis ein: „Viele von uns sind in Helferberufen anzutreffen: Wir wurden Therapeuten, Soziologen, Anwälte oder Pädagogen. Das hat seinen Grund in der Erfahrung der Marginalisierung“, glaubt sie. Aras, die 2014 bis 2018 Stadträtin im Mannheimer Gemeinderat war, rät auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft, in Zeiten der verstärkten Migration nach Deutschland die Differenzierung verschiedener Ethnien und Religionen nicht aus dem Blick zu verlieren.
Bewahrung des Stammessprache
Mit ihrem 1998 gegründeten Verein Bone Kulture Ma arbeiten Zaza-Aleviten der Region wie Aras seit vielen Jahren daran, die Minderheit sichtbarer zu machen. Wichtigstes Zukunftsprojekt ist die Weitergabe der laut Unesco vom Aussterben bedrohten Stammessprache. „Unsere Jugendlichen sprechen kaum noch Zazaki. Wenn das so weitergeht, stirbt die Sprache mit dieser Generation aus“, mahnt Aras. In ihrer therapeutischen Arbeit erlebt sie, dass nicht wenige Migranten auf der Suche nach einer kulturellen Verwurzelung zerbrechen und nicht an die überlieferte Identität ihrer Familie anknüpfen können. Mit ihrem Engagement für die Sprache und den Glauben ihrer Vorfahren hofft Aras, dieser Entwicklung bei jüngeren Zazas entgegenzuwirken: Heilung durch Aufarbeitung, Akzeptanz und Teilhabe sowie raus aus der Opferrolle, in Dialog treten, nennt Aras ihr Konzept zur Identitätsfindung.
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