Frau Alexopoulou, wie haben Sie die jüngsten Migrationsdebatten in Deutschland beobachtet?
Alexopoulou: Es ist im Grunde eine ständige Wiederholung von Altbekanntem: Man dürfe die deutsche Staatsangehörigkeit nicht einfach so „verscherbeln“ oder aber junge migrantische Männer seien aggressiv und nicht integrierbar. Jahrzehntelang wurden ganze Bevölkerungsgruppen volle Bürgerrechte und damit politische Sozialisation verwehrt. Die Politik schreitet hier viel zu langsam voran, muss das aber tun, schon allein, um Deutschland wettbewerbsfähig zu halten. Ich finde gut, dass zumindest den alten „Gastarbeitern“ nun die Einbürgerung erleichtert werden soll, quasi als sehr späte Anerkennung ihrer Lebensleistung.
Bei diesem Thema kommen wir bislang um sperrige Begriffe wie Migration, Einwanderung oder Migrationshintergrund nicht herum. Definieren Sie bitte mal.
Alexopoulou: Migration ist die Bewegung irgendwohin, also von einem Ort oder Land in ein anderes. Einwanderung ist praktisch das vorläufige Ende einer Migration. Wenn man sich in einer Gesellschaft sesshaft macht und Teil von dieser wird. Und Migrationshintergrund ist ein statistischer Begriff, der gerade auch sehr kritisch diskutiert wird.
Mannheimer Historikerin
- Maria Alexopoulou ist in Mannheim geboren und in Schriesheim und Ladenburg aufgewachsen.
- Ihre Eltern kamen als Gastarbeiter aus Griechenland nach Deutschland.
- An der Universität Heidelberg hat sie Geschichte und Philosophie studiert.
- Anfang der 2000er-Jahre organisiert sie mit dem Verein „Die Unmündigen“ Ausstellungen und Dokumentarfilme.
- Von 2015 bis 2020 lehrte und forschte sie am Historischen Institut der Universität Mannheim.
- Dort wurde sie auch im Dezember habilitiert und vertritt aktuell die Professur für Zeit-geschichte.
- Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderen auf Migration, Rassismus sowie amerikanischer und griechischer Geschichte.
Sie haben 2020 das Buch „Deutschland und die Migration: Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen“ veröffentlicht. Was war der Anlass?
Alexopoulou: Lange sah man es in der Geschichtswissenschaft als Zufallsprodukt an, dass Deutschland zu einer Einwanderungsgesellschaft wurde. Diese Entwicklung wurde dabei zumeist als Fehler, Problem oder Versäumnis bewertet. Und die Gesellschaft setzte sich damit nicht auseinander, weil die sogenannten Gastarbeiter ja sowieso wieder gehen wollten und sollten. Aber wenn man sich die damaligen Debatten und amtliche Akten genauer anschaut, erkennt man, dass hinter diesem vermeintlichen Nichtauseinandersetzen ein bewusster Prozess der Anti-Einwanderungspolitik steckte, die in einer längeren Tradition stand und nicht erst mit der „Gastarbeiterzeit“ begonnen hatte.
Seit wann wird Migrationsgeschichte als Disziplin erforscht?
Alexopoulou: Es gab einige wenige Spezialisten, die in den 1980er Jahren das Thema historisch bearbeiteten, ohne besondere Beachtung zu bekommen. Recht früh haben auch Migrantinnen und Migranten selbst das Bedürfnis entwickelt, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Das führte dann in den Neunzigern und 2000er-Jahren zu größeren Ausstellungen über „Gastarbeit“, wie auch 2005 in Mannheim. Die Wissenschaft hat sich erstmals seit den Jubiläen der Anwerbeabkommen breiter damit befasst.
Und wie kam neuer Schwung dahinter?
Alexopoulou: Seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 hat man dann plötzlich in der Geschichtswissenschaft erkannt: Wir müssen uns auch mehr damit befassen. Und 2020 kam es mit Hanau und dann auch dem Überschwappen der Black Lives Matter Bewegung nach Deutschland dazu, dass man sich mit Rassismus im Kontext der Migrationsgeschichte auseinandersetzt. Das war ein großer, aber überfälliger Schritt. Mittlerweile ist das Thema eher wieder in den Hintergrund geraten. Es gibt auch noch keine eigenständige Professur für Rassismusforschung in Deutschland.
Anwerbung von Arbeitern
- Bereits im Nationalsozialismus schloss Deutschland 1937 ein Abkommen mit Italien, um dem Bedarf an Arbeitskräften in der Rüstungsindustrie nachzukommen.
- Am 20. Dezember 1955 unterzeichnete die Bundesrepublik mit Italien ein Anwerbeabkommen. Das gilt als Auftakt für die sogenannte Gastarbeiterzeit in Deutschland. In den folgenden Jahren vereinbarte Deutschland mit weiteren Staaten ähnliche Abkommen, wie zum Beispiel mit der Türkei (1961), Portugal (1964) oder dem damaligen Jugoslawien (1968).
- So kamen bis 1973 etwa 14 Millionen Menschen nach Deutschland. Einige blieben, aber mehr als elf Millionen kehrten wieder in ihre Heimatländer zurück. Aufgrund der Ölpreiskrise 1973 entschied sich die Bundesregierung zu einem sogenannten Anwerbestopp.
Was ist die Grundthese ihres Buches?
Alexopoulou: Dass rassistisches Wissen über „Migrationsandere“ eine Ursache dafür ist, dass sich Deutschland lange nicht als Einwanderungsgesellschaft sehen wollte, sondern Einwanderinnen und Einwanderer je nach Herkunft weniger oder mehr erwünscht waren oder als Gefahr gesehen wurden.
Und was genau ist mit „rassistisches Wissen“ gemeint?
Alexopoulou: Damit ist gemeint, dass man das Phänomen Rassismus weder allein als Ideologie noch allein als Diskriminierung fassen kann. Sondern dass gerade der systemische Charakter von Rassismus nur zu verstehen ist, wenn man erkennt, dass sich dieses rassistische Wissen, was freilich falsches Wissen ist, überall fortsetzt.
Woran zeigt sich das?
Alexopoulou: Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte in dieser Hinsicht keine scharfe Zäsur. Bilder des „kriminellen“, „asozialen“ und „unerwünschten Ausländers“ prägten weiterhin viele Gesetze, so etwa das Aufenthaltsrecht.
Heute spricht man ja auch nicht mehr von „Ausländern“.
Alexopoulou: Ja, dieser Begriff hat, wie das N-Wort, die Konnotation einer minderwertigen Bevölkerungsgruppe, die nicht zur Gesellschaft dazugehört. Wenn man in diesem Kontext „Ausländer“ gesagt hat, dann waren zum Beispiel auch keine weißen Engländer oder Schweden gemeint, sondern die sogenannten Gastarbeiter oder dann ab den Siebzigern auch außereuropäische Flüchtlinge. Das war eine rassistische Bezeichnung.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Alexopoulou: Man hat die Menschen nicht nur „Ausländer“ genannt, sondern auch so behandelt. An vielen Gaststätten hingen „Keine Ausländer“-Schilder. Oder auch auf dem Wohnungsmarkt war es ganz normal, dass in Aushängen ebenso „Keine Ausländer“ stand, auch im Mannheimer Wohnungsamt. Oder das pauschal Hauptschulempfehlungen verteilt wurden.
Seit wann sieht sich Deutschland als Einwanderungsgesellschaft?
Alexopoulou: Das ist ein extrem langsamer Prozess, wenn man bedenkt, dass Deutschland schon seit dem Kaiserreich nach den USA das zweitgrößte Zuwanderungsland war. Man hatte damals schon massive Arbeitsmigration, in den zwei Weltkriegen vor allem in Form von Zwangsarbeit.
Und wie ändert sich das?
Alexopoulou: Es fängt in den Siebzigern so langsam an mit Solidarität für Geflüchtete. Ebenso gab es vereinzelt Politiker wie Hans-Dietrich Genscher, der von Einwanderung gesprochen hat.
Oder Heinz Kühn, den ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung.
Alexopoulou: Genau, er nannte Deutschland ein Einwanderungsland und hat gefordert, dass zum Beispiel die zweite „Gastarbeiter“-Generation unkompliziert die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen sollte. Aber seine Vorschläge wurden damals von der sozialliberalen Regierung größtenteils abgelehnt. Man hat sich ganz bewusst dagegen entschieden. Das hat sich auch in der Gesellschaft widergespiegelt. Die Mehrheit war etwa dagegen, den „Gastarbeitern“ das kommunale Wahlrecht zu geben.
Jetzt haben wir schon ein paar Mal darüber gesprochen. Wie bewerten Sie den Begriff „Gastarbeit“?
Alexopoulou: Was viele nicht wissen, ist, dass der Begriff im Nationalsozialismus entstand. Auch später war das kein offizieller Begriff, sondern ist dann irgendwie in die Gesellschaft hinein diffundiert. Man hat es oft so interpretiert: Deutschland will sich als gastfreundliches Land zeigen. Aber Gast bedeutet auch, dass jemand eben nur vorübergehend da ist. Und als Gast zum Beispiel in Kneipen waren die sogenannten Gastarbeiter oftmals gar nicht gerne gesehen. Darin zeigt sich die Absurdität dieses Begriffes, der weltweit einzigartig ist.
Sie haben ja auch in Mannheim geforscht. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?
Alexopoulou: Mannheims Politik in den 80ern und 90ern war geprägt von einem sehr starken Paternalismus. Es gab zwar schon früh einen Ausländerbeauftragten, aber das war alles nicht auf Augenhöhe. Man kann damals nicht von einem wirklichen partizipativen Ansatz sprechen.
Heute gibt es ja den Migrationsbeirat…
Alexopoulou: Ja, aber der wurde in Mannheim erst im Jahr 2000 gegründet. In Stuttgart gab es zum Beispiel schon 1984 den ersten gewählten Ausländerbeirat, wie es damals noch hieß. Vor ein paar Jahren hat eine interessante Studie gezeigt, dass in Städten, die damit früher dran waren, auch viel früher Menschen mit Migrationsgeschichte in die Stadträte gekommen sind oder dann als Bundestagsabgeordnete oder Landtagsabgeordnete gewählt werden konnten.
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