Mannheim. Der 25 Jahre alte Messer-Attentäter vom Mannheimer Marktplatz soll nach Informationen dieser Redaktion vom Wochenende außer Lebensgefahr sein. Dies bestätigten Mediziner-Kreise am Montag auf Anfrage. Demnach soll sich der Afghane Suleiman A. fast drei Wochen im künstlichen Koma befunden haben, nachdem er auf dem Marktplatz während einer Kundgebung der islamkritischen Bewegung „Pax Europa“ fünf Menschen und den Polizisten Rouven Laur mit einem Messer verletzt hatte. Der 29-jährige Polizist erlag kurz darauf seinen schweren Verletzungen, Polizeibeamte stoppten A. durch Schusswaffeneinsatz und verletzten ihn nach Informationen dieser Redaktion lebensgefährlich.
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Aktuell sollen die Ärzte des Mannes das Aufwachen einleiten, phasenweise soll der 25-Jährige inzwischen wieder ansprechbar sein und auf äußere Reize reagieren. Vernehmungsfähig ist Suleiman A. nach Informationen dieser Redaktion bislang aber noch nicht.
Die Bundesanwaltschaft, die nach dem mutmaßlichen Terrorakt auf dem Mannheimer Marktplatz die Ermittlungen an sich gezogen hat, wollte auf Anfrage keine Angaben zum Gesundheitszustand des Attentäters machen. Auch zur Vernehmungsfähigkeit äußere man sich grundsätzlich „aus ermittlungstaktischen Gründen“ nicht, sagte ein Sprecher der obersten deutschen Anklagebehörde, die von „einer religiös motivierten Tat“ ausgeht.
Doch sind bereits einige Details zu Herkunft und Biografie des 25-jährigen Täters bekannt geworden. Indizien sprechen dafür, dass sich Sulaiman A. vor einiger Zeit zum Islamisten radikalisiert hat - aber wie konnte ein afghanischer Flüchtling, der sich vorbildlich in Deutschland integrierte, so abdriften?
Mit 14 als Flüchtling allein nach Deutschland gekommen
Sulaiman A. stammt aus der Gegend von Herat, der zweitgrößten Stadt Afghanistans im Westen des Landes. Er ist 14 Jahre alt, als er im Frühjahr 2013 als sogenannter unbegleiteter Flüchtling allein nach Deutschland einreist und Asyl beantragt. Anfangs ist er in Frankfurt am Main untergebracht, dann wohnt er in einer Jugendwohngruppe in Bensheim im hessischen Landkreis Bergstraße.
A. findet nach seiner Ankunft schnell Anschluss, trainiert nur wenig später im Taekwondo-Verein Bergstraße Bensheim und nimmt erfolgreich an Wettbewerben teil. So gewinnt er im November 2013 Gold beim Internationalen Rheinland-Pfalz-Pokal. Das Turnier habe der Kampfsport-Verein zum Anlass genommen, den ersten Turnierstart zu realisieren, schreibt der „Bergsträßer Anzeiger“ seinerzeit. „Und dieser verlief für den B-Jugendlichen Sulaiman A. in der Gewichtsklasse bis 57 kg äußerst erfolgreich, denn er beherrschte die Konkurrenz und feierte auf Anhieb seinen ersten Turniersieg.“ Auf einem Foto, das ihn im Taekwondo-Anzug zeigt, grinst er verlegen und hält einen kleinen Pokal in der Hand.
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Kurze Zeit später holt er im März Bronze bei den Hessenmeisterschaften. „Sulaiman A. sicherte sich nach technischen Problemen mit den elektronischen Kampfwesten noch den dritten Platz“, heißt es im „Bergsträßer Anzeiger“. Auf dem Foto der Zeitung präsentiert der schlaksige Junge seine Medaille stolz zwischen den Zähnen. Er steht an der Seite zweier Teamkameraden und seinen beiden Trainern. Ein ähnliches Bild und entsprechender Beitrag lässt sich auf der Facebookseite des Vereins finden. „Sulaiman beendet in der stark besetzten Klasse Jugend A bis 59 kg das Turnier mit einem guten dritten Platz“, steht in dem Post.
Als wir uns an der Bergstraße auf die Spuren des Täters begeben wollen und in Bensheim beim Taekwondo-Verein vor Ort sind, will man sich dort nicht zu A. äußern. Ein Mann schüttelt lediglich den Kopf, hält wortlos die Tür auf und bittet uns mit einer freundlichen Geste hinaus.
A. hatte 2017 einen erweiterten Hauptschulabschluss geschafft, absolviert Deutschkurse auf dem Niveau B2 - er kann sich nun auf Deutsch verständigen - und ist eine Zeit lang als Hilfsarbeiter beschäftigt. Ehrenamtlich engagiert er sich in der Flüchtlingshilfe im Landkreis Bergstraße. Die Suche nach der konkreten Schule des späteren Attentäters gestaltet sich schwierig. Es wird auf den Datenschutz hingewiesen - oder sein Name lässt sich in den Datenbanken der Schulen, die bereit sind zu suchen, nicht finden.
Auch Anfragen bei Flüchtlingshilfen an der Bergstraße bleiben erfolglos. Bei der Stadt Bensheim etwa sagt ein Sprecher: „Wer sich im Einzelnen [bei der Flüchtlingshilfe Bensheim] engagiert hat, entzieht sich unserer Kenntnis.“ Von der Flüchtlingshilfe Heppenheim heißt es: „Sulaiman A. war zu keinem Zeitpunkt Mitglied bei der Flüchtlingshilfe Heppenheim noch hat er sich bei uns engagiert.“
2019 hatte A. eine aus der Türkei stammende Frau mit deutscher Staatsangehörigkeit geheiratet, das Paar bekommt zwei Kinder: Das ältere soll jetzt drei Jahre alt sein, das kleinere fast ein Jahr. Zusammen leben sie unauffällig unter 104 Parteien im neunten Geschoss eines Hochhauses in Heppenheim.
A. gilt erst als gut integriert - dann geschieht der Wandel
A. gilt als gut integriert. Nur mit dem Asyl klappt es nicht. Sein Antrag wird im Sommer 2014 abgelehnt, er darf aber bleiben. Erst gilt ein Abschiebeverbot, wegen der unsicheren Lage in Afghanistan und vermutlich auch wegen seines Alters. Voriges Jahr schließlich erhält er endlich eine bis 2026 befristete Aufenthaltsgenehmigung - als Vater eines Kindes, das in Deutschland geboren ist und die deutsche Staatsangehörigkeit hat.
Die Ermittler sind nach der Bluttat ratlos. A. scheint ein gänzlich unbescholtener Bürger zu sein: Er ist nicht in Polizeidatenbanken registriert, auch nicht beim Verfassungsschutz, Verbindungen zu islamistischen Netzwerken sind nicht ersichtlich. Eine Tat aus dem Nichts? Nachbarn im Heppenheimer Hochhaus berichten, dass sich A. in letzter Zeit verändert haben soll - vor ein paar Monaten habe es begonnen, sagt einer der Bewohner dieser Redaktion. Andere wollen den Wandel schon früher beobachtet haben, vielleicht vor einem Jahr. Klar ist nur: Der Mann hat sich in der Zwischenzeit einen Vollbart wachsen lassen, geht auf Distanz, ist gegenüber den Nachbarn verschlossen.
Die Polizei hat in seiner Wohnung elektronische Datenträger beschlagnahmt und Mobilfunkdaten ausgewertet. A. begann offenbar vor einigen Monaten, im Internet islamistische Videos hochzuladen. Laut der „Welt“ handelt es sich unter anderem um Videos des getöteten afghanischen Predigers und Taliban-Kommandeurs Ahmad Zahir Aslamiyar, der auf Youtube zum Dschihad gegen den Westen aufruft. Seine Botschaften werden auch in Kanälen der besonders gefährlichen Terrororganisation „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ (ISPK) geteilt.
Die Internet-Spuren erhärten für die Kriminalbeamten den Verdacht auf einen islamistisch-extremistischen Hintergrund, der Generalbundesanwalt übernimmt die Ermittlungen. Hinweise auf ein Netzwerk gibt es bislang offenbar nicht. Nach bisherigem Erkenntnisstand soll alles dafür sprechen, dass A. ein Einzeltäter gewesen ist. (mit ZRB)
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