Mannheim. Jetzt startet die neue Staffel des „MM“-Podcasts „Verbrechen im Quadrat“. Warum erzählen wir eigentlich einander Geschichten von Verbrechen?
Jan Harms: In jüngster Zeit bedienen sie häufig ein Wissensinteresse: Es geht immer stärker um Ermittlungsmethoden und einen wissenschaftlichen Blick auf das Verbrechen. Schon länger sollen Geschichten über Verbrechen aber auch moralisieren, Werte vermitteln, die in einer Gesellschaft wichtig sind. Sie zeigen, wo wir als „normale“ Gesellschaft stehen und wo das „Andere“ und das Böse beginnt.
Was fasziniert uns daran so?
Harms: Ein zentraler Gedanke ist: Etwas ist anders, als es auf den ersten Blick scheint. Der harmlose Nachbar, der in Wahrheit ein Serienmörder ist, ist ja ein populäres Narrativ. Es muss dabei gar nicht immer der Täter der Böse sein. Sitzt jemand unschuldig im Gefängnis? Gibt es einen Justizirrtum? Wird polizeiliches Fehlverhalten aufgedeckt? Die Geste, etwas sichtbar zu machen, was vorher nicht zu sehen war, fasziniert uns sehr.
Über Jan Harms
Jan Harms promoviert an der Universität der Künste in Berlin.
Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig.
Der Titel seiner Dissertation lautet „Verdachtsmomente. Ästhetiken von Evidenz und Dokument in digitalen True-Crime-Formaten“.
Zum Phänomen True Crime forscht der 32-Jährige seit 2019.
Wann haben wir denn damit angefangen? Schon am Lagerfeuer in der Steinzeit?
Harms: True Crime ist nichts Neues. Das Erzählen von Verbrechen können wir durch die Jahrhunderte verfolgen. Mit etwas Fantasie könnte man sogar die Geschichte von Kain und Abel im Alten Testament als Kriminalerzählung bezeichnen. Ob das so sinnvoll ist, ist eine andere Frage.
Seit wann gibt es True Crime Erzählungen, wie wir sie heute kennen?
Harms: Vorformen von modernen True Crime Erzählungen kann man schon im 19. Jahrhundert finden. Der Begriff True Crime hat sich dann in den 20er Jahren in den USA etabliert: Dort gab es das Magazin „True Detective“. Das hat fiktionale Kriminalgeschichten abgedruckt, aber auch Geschichten mit dem Anspruch, dass sie wirklich so passiert sind. Durch das 20. Jahrhundert hinweg gab es immer wieder Wellen, in denen Kriminalgeschichten populär waren. „Cold Blood“ von Truman Capote aus den 50er-Jahren ist als Tatsachenroman vermarktet worden. Damit ist das Genre gewissermaßen in der Literatur angekommen. In den 80ern und 90ern war das Interesse am Phänomen Serienmörder groß. Ab den 90er-Jahren beschäftigen sich Fernsehformate mit Ermittlungsmethoden, insbesondere forensischen Methoden. Die amerikanische True Crime Serie „Forensic Files“ hat vorweggenommen, was dann um die Jahrtausendwende mit dem „CSI“-Franchise fiktional aufgegriffen wurde. Die beiden Bereiche, Berichte über wahre Kriminalfälle und Fiktion, inspirieren sich wechselseitig.
Was macht den aktuellen True Crime Boom aus?
Harms: Der hat viel mit der vernetzten Digitalkultur zu tun: Podcasts oder Videos über wahre Verbrechen sind immer eingebunden in ein Umfeld von Social Media. Es gibt immer zusätzliche Materialien, die verlinkt sind. Es wird viel über diese Themen diskutiert. Es ist ein spezifisch digitalkulturelles Interesse, unter die Oberfläche, hinter die Fassade zu schauen. In den letzten Jahren gibt es auch vermehrt sogenannte „Desktop Detectives“, die inspiriert von True Crime Geschichten selbst als Ermittlerinnen aktiv werden. Das fängt vielleicht banal an, man schaut auf Google Maps nach, wo das Verbrechen stattgefunden hat. Man recherchiert im Internet weiter zu dem Fall. Letztlich kann es auch in Internetforen oder auf Seiten wie Reddit zu teils richtigen „Ermittlungsbewegungen“ führen. Natürlich sind diese nicht immer unproblematisch.
Jetzt anhören: True-Crime-Podcast "Verbrechen im Quadrat"
Im True-Crime-Podcast "Verbrechen im Quadrat" taucht Gerichts- und Kriminalreporterin Agnes Polewka in wahre Kriminalfälle ein, die Mannheim und die Rhein-Neckar-Region erschüttert haben.
Alle Folgen der Staffel, zahlreiche Hintergründe und Berichte gibt es hier
Wie ist es Ihrer Meinung nach möglich, über wahre Kriminalfälle ethisch angemessen zu berichten?
Harms: Wer über wahre Kriminalfälle berichtet, lädt sich eine doppelte Verantwortung auf. Einmal geht es häufig um Gewalt. Man muss sich Gedanken machen, wie will man diese Gewalt darstellen? Dann ist da noch der Bezug zur Realität: Hinter den Geschichten stehen echte Menschen. Es gibt Opfer, es gibt Angehörige, es gibt Überlebende. Da sind Fragen des Persönlichkeitsrechts zentral. Will man die Angehörigen der Geschichte erneut aussetzen? Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, sie zu beteiligen? Wie genau erzählt man die Geschichte? Ich persönlich interessiere mich vor allem für investigative Formate, die versuchen, etwas Neues herauszufinden. Und ich halte es für sehr wichtig, das Verbrechen in einen gesellschaftlichen Kontext einzubetten.
Wie meinen Sie das?
Harms: Dass versucht wird, nachzuzeichnen, wie es überhaupt zu diesem Verbrechen kommen konnte. Gut gefällt mir auch, wenn über Verbrechen berichtet wird, die sonst ein bisschen hintenüberfallen. Es gibt tausende Formate, die sich dem Thema Serienmörder widmen. Aber, wenn wir uns die empirische Realität anschauen, ist das zum Glück ein relativ seltenes Phänomen. Häusliche Gewalt hingegen und andere Delikte, die gesamtgesellschaftlich viele Menschen betreffen, finden nur ganz selten in Programmformaten statt. Das wäre doch entscheidender. Und ein Ansatz, mit dem man auch gesellschaftlich etwas bewirken könnte.
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