Mannheim. Die Begeisterung für dieses Land sieht man ihm an: „Vietnam ist mehr als der Vietnamkrieg“, fasst Andreas Margara seine Botschaft zusammen. Dieses Interesse entsteht, als der gebürtige Heidelberger in den 1990er Jahren, damals noch mit seinen Eltern, im Fernen Osten unterwegs ist. Und es verstärkt sich, während er als Stipendiat am Goethe-Institut in Hanoi wirkt und die Sprache erlernt. Schließlich promoviert er sogar über die deutsch-vietnamesischen Beziehungen.
Der 41-Jährige, heute Marketingchef der Uni Mannheim, gilt als einer jener Handvoll Vietnam-Experten, die es in Deutschland gibt; das Buch mit dem Thema seiner Dissertation wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht. Und so ist der Mann, der bei Guido Knopp hospitiert und 2019 für eine Folge von ZDF-Terra X History eine Filmexpedition zu den Stätten des Vietnam-Krieges fachlich begleitet hat, derzeit ein gefragter Gesprächspartner. Denn am 30. April 1975, vor genau 50 Jahren, endet der Krieg in Vietnam. Und der hat viel, sehr viel mit Deutschland und auch der Rhein-Neckar-Region zu tun.
Formulierungen von damals erscheinen brandaktuell
Die Deutschen und Vietnam, das ist eine spannende Geschichte, wie Margara weiß. Und was er berichtet, das klingt in seinen Formulierungen so frappierend aktuell. Als die Franzosen in Vietnam kämpfen, um ihre Kolonialherrschaft zu erhalten, äußert Kanzler Konrad Adenauer 1954 sinngemäß, am Mekong werde auch die Freiheit Westdeutschlands verteidigt. Und als die Amerikaner vor Ort kämpfen, wird Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard von US-Präsident Johnson einbestellt. Der verlangt von Deutschland mehr Geld und militärische Unterstützung; sonst müsse sich Amerika doch noch überlegen, ob es Deutschland verteidigen soll.
Zu deutschen Soldaten in Vietnam kommt es jedoch nicht. Stattdessen schickt Deutschland ein Lazarettschiff, die „Helgoland“, quasi „Medizin statt Munition“. Allerdings melden sich Deutsche, auch Mannheimer, freiwillig, um für die US-Army in Vietnam zu kämpfen und dadurch die „Green Card“ zu erwerben. Und auch sie fallen in Vietnam. Auf dem Mannheimer Hauptfriedhof werden sie bestattet, mit dem Sternenbanner, aber ohne viel Aufhebens. Um den Eindruck eines militärischen Engagements Deutschlands in Vietnam zu vermeiden.
Ohnehin ändert sich allmählich die Stimmung. Lange regt sich keine Kritik an der Schutzmacht, die Deutschland 1945 von den Nazis befreit hat. Auch nicht, als 1969 die Sozialdemokraten unter Willy Brandt die Regierung übernehmen. Doch in der Öffentlichkeit dreht sich der Wind. Vor allem für die studentische Jugend bildet der Vietnamkrieg den zentralen Kulminationspunkt ihrer Kritik an der Generation der Väter.
Das Leid eines kleinen Mädchens bewegt die Welt
Verstärkt wird dies von Vorgängen wie diesem: Am 8. Juni 1972 wird die neunjährige Phan Thị Kim Phuc Opfer eines Napalm-Angriffs der mit den USA verbündeten Armee Südvietnams. Das Foto der Agentur AP von dem vor Schmerzen schreienden Mädchen geht um die Welt und wird zu dem Symbolbild des Vietnamkrieges und seines Schreckens. Des von den USA verursachten Schreckens.
30 Prozent der Körperoberfläche des Mädchens sind verbrannt, der Rücken komplett. In den ersten 14 Monaten muss sie 17 Operationen und Hauttransplantationen über sich ergehen lassen (die letzte 2022). 1982 wird sie, organisiert vom Magazin „stern“, in der auf derartige Fälle spezialisierten Unfallklinik in Ludwigshafen-Oggersheim von Dr. Rudolf Zellner operiert. Erst von da an, zehn Jahre nach dem Vorfall, kann sie sich wieder weitgehend normal bewegen. Heute lebt die 62-Jährige in Kanada und engagiert sich in der Friedensbewegung.
Auch in der Rhein-Neckar-Region regt sich Protest
Ereignisse wie diese bilden den Hintergrund für die Stimmung auch in der Rhein-Neckar-Region. Dabei wird sie hier von zwei eigentlich konträren Umständen geprägt: „Hier gibt es zwei große Unis, in Mannheim und Heidelberg, aber in beiden Städten auch eine riesige Militärpräsenz“, erläutert Margara.
So kommt es auch in der Region zu Demonstrationen, die größte in Mannheim 1968 am Friedrichsring. In Heidelberg organisiert Klaus Staeck 1969 im damaligen „Amerikahaus“ eine Kunstaktion mit einem noch völlig unbekannten Künstler: Christo verhüllt mit weißen Laken das Gebäude an der Sofienstraße, in dem sich heute das DAI befindet.
Der Protest mit dem Schlachtruf „Ho-Ho-Ho Chi Minh“ prägt das Straßenbild, doch er bildet nicht die Mehrheit ab, die nach wie vor zu Amerika steht. Ebenso wie die beiden Stadtverwaltungen, deren Vertreter weiterhin bei Paraden und Volksfesten in den Kasernenkomplexen anwesend sind.
Auf Coleman größtes US-Militärgefängnis Europas
Doch in diesen spielen sich ebenfalls Dramen ab. Insgesamt 35.000 US-Soldaten werden aus Deutschland nach Vietnam geschickt, ab 1966 1.800 pro Monat. Aber immer mehr verweigern sich. Denn betroffen von dem tödlichen Einsatz in Vietnam sind überdurchschnittlich viele Schwarze GIs. Sie sehen nicht ein, warum sie für die Ehre Amerikas sterben sollen, wo sie doch bis kurz zuvor in Teilen des Südens der USA auf keiner Parkbank sitzen dürfen. „Ich habe keinen Krach mit dem Vietcong“, sagt etwa Muhammad Ali.
Jeder US-Soldat in Europa, der sich weigert, nach Vietnam zu gehen, wird in Mannheim eingekerkert: im Militärgefängnis auf Coleman, dem größten außerhalb der USA. Als 1968 in den USA der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet wird, kommt es hier zu einem Aufstand der Gefangenen. Ihnen gelingt es sogar, die Kontrolle über das Gefängnis zu übernehmen. Es bedarf des Einsatzes der deutschen Polizei, um den Aufstand niederzuschlagen.
Widerstand der GIs formiert sich auch außerhalb der Kasernen. 1970, just am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag, gibt es an der Uni Heidelberg den „Call for Justice“, zu dem sich Hunderte von Schwarzen GIs zum Protest einfinden und ein Zehn-Punkte-Manifest verabschieden, Hauptforderung: Truppenabzug der USA aus Vietnam.
Um Gegenöffentlichkeit zu „Stars and Stripes“ zu bilden, gründen sie eigene Zeitungen, oft unterstützt vom SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). „Die erste wird in Heidelberg, in der Schiffsgasse, produziert“, berichtet Margara. Sie heißt „About Face“ und hat eine Auflage von 500 Stück.
Kritik am Vietcong fehlt, obwohl die nötig wäre
Doch die Kritik von Linken und Studenten am US-Engagement in Vietnam ist einäugig. Sie übersieht leichtfertig oder bewusst, dass die Nordvietnamesen keineswegs die Demokratie in den Süden bringen wollen. Und dass auch ihr Vietcong Massaker und Menschenrechtsverletzungen begeht. Der Wormser Psychiater Bernhard Diehl erlebt das vier Jahre lang in einem Martyrium.
Im Mai 1968 schließt sich der damals 21-Jährige dem Malteser-Hilfsdienst (MHD) in Vietnam an. Als Sanitäter will er sich vor Ort um die Verletzten kümmern. Am 27. April 1969 ist er mit vier seiner Kollegen bei An Hoa im Süden Vietnams unterwegs, als sie in die Fänge des Vietcong geraten. 62 Tage lang werden sie durch den Dschungel getrieben. Drei der fünf überleben diese Tortur in der Wildnis nicht. Neben Diehl ist 1970 nur noch eine Kinderkrankenschwester am Leben.
Dem Gewaltmarsch folgt eine grausame Haft, zunächst in völliger Dunkelheit, danach in winzigen Einzelzellen. Es gibt keine Möglichkeit, sich zu waschen und sich damit des Heers der Wanzen zu erwehren, und kaum Nahrung - nur eine Kugel Reis am Tag. Hungerödeme und Isolation bringen die Gefangenen an die Grenzen ihrer Existenz. Um nicht seinen Verstand zu verlieren, führt Diehl stundenlange Selbstgespräche. Erst 1973, nach vier Jahren, kommt er frei.
In jenem Jahr ziehen sich die USA aus Südvietnam zurück, am 30. April 1975 erobert der Vietcong dessen Hauptstadt Saigon. Die Bilder verzweifelter Menschen, die sich auf dem Dach der CIA-Niederlassung an den letzten US-Hubschrauber klammern wollen, brennen sich vielen Zeitgenossen ein.
Ungewollte „Wiedervereinigung“ auf deutschem Boden
Dieser Sieg des Vietcong wird bei der deutschen Linken bejubelt. „Man hat ausgeblendet, was dann folgt“, sagt Margara. Nämlich Diktatur und Verfolgung, die viele Vietnamesen aufs Meer treibt. Als „Boat People“ werden sie ein Begriff.
Auf dem Schiff „Cap Anamur“, das sie aus den Fluten des Südchinesischen Meeres rettet, leistet auch die Kinderärztin Edeltraud Miller-Pfeil aus dem pfälzischen Dirmstein Dienst. Und es ist der niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht, der Vater Ursula von der Leyens, der 1979 die Initiative ergreift und die Geretteten nach Deutschland holt.
Regimefreundliche Vietnamesen dagegen kommen als Vertragsarbeiter in die DDR. Mit 70.000 Menschen stellen sie die größte Migrantengruppe in Ostdeutschland. Die deutsche Einheit 1990 bringt für die Vietnamesen in beiden Staaten eine ungewollte Wiedervereinigung: Die im Westen lebenden Gegner des Regimes von Hanoi wollen nichts zu tun haben mit dessen im Osten beheimateten Günstlingen.
Große Chancen für Deutschland in Vietnam
Und dennoch hat die Anwesenheit beider Gruppen in Deutschland Folgen: „Wohl in keinem Land der Welt ist Deutschland so beliebt wie in Vietnam“, berichtet Margara von seinen zahlreichen Reisen. Deutsch ist nach Französisch die am meisten verbreitete Fremdsprache. Aber auch für Deutschland biete das Land große Chancen, sagt der Experte. „Nicht ohne Grund waren die Kanzler Schröder, Merkel und Scholz dort.“
Und zwar Chancen als Partner Vietnams im Westen, wo doch die USA unter Trump als solcher immer mehr ausfallen. „Clinton war vor Ort und hat einen Neuanfang versucht, was dort positiv aufgenommen wurde“, erinnert Margara. Trump jedoch hat untersagt, dass US-Offizielle in Vietnam an den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes teilnehmen. Seine neue Politik trifft auch dort die Schwächsten: Mit dem Kahlschlag bei USAID sind Projekte gegen die Folgen des Einsatzes von Minen und von „Agent Orange“ gefährdet.
Bis heute ist auch die Sicht auf den Vietnamkrieg amerikanisch geprägt. „Das reicht bis in die Popkultur“, erinnert Margara und nennt US-Kinohits: „Rambo“, „Platoon“ und „Apokalypse Now“. Und dennoch sieht er nach 50 Jahren durchaus die Chance zu einer ideologiefreien, differenzierten Betrachtung des Vietnamkrieges. Nötig wäre sie.
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