Vor 25 Jahren sorgt in Mannheim ein „Spiegel“-Bericht wochenlang für Wirbel – Grund: Darin wird der Stadtteil Rheinau als „Zentrum des organisierten Verbrechens in Deutschland“ bezeichnet.
Das ist schon ziemlich starker Tobak: 1996 bezeichnet das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ die Rheinau als „Zentrum des organisierten Verbrechens in Deutschland“. „Ferraris am Straßenrand“ zeugten davon, dass sich nicht alle Einwohner ihren Unterhalt nur mit ehrlicher Arbeit verdienten. Der Bericht führt in Mannheim zu einem Sturm der Entrüstung und zur Einleitung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Das endet vor 25 Jahren – und damit die Mannheimer „Spiegel-Affäre“.
Ihr Auslöser ist ausgerechnet ein Rheinauer: Maurizio Gaudino, geboren 1966 in Brühl als Spross einer Familie aus Kampanien, aufgewachsen im alten Ortskern Rheinaus, einer Straße mit dem historischen Namen Dänischer Tisch.
Seine Freizeit verbringt der kleine Mauri beim Traditionsverein TSG Rheinau. Hier wird sein überragendes fußballerisches Talent bereits früh erkannt. Jugendtrainer Josef Düsi erzählt noch lange eine aufschlussreiche Anekdote: Er bietet dem Jungen fünf D-Mark, wenn er den Ball von seiner Wohnung bis zum Sportplatz dribbeln kann, ohne dass dieser auf den Boden fällt – immerhin ein Kilometer. Laut Düsi soll Gaudino es geschafft haben.
Bald wechselt der talentierte Mittelfeldspieler zum SV Waldhof, zunächst zur Jugend, dann in die Erste Mannschaft, danach zum VfB Stuttgart, mit dem er 1992 Deutscher Meister wird, zur Frankfurter Eintracht, 1993 wird er in die Nationalmannschaft berufen. Bei all dem bleibt Gaudino ohne jede Starallüren, engagiert für soziale Projekte, hält stets den Kontakt zur Rheinau.
Jähes Ende bei Gottschalk
Am Ende sind es falsche Freunde, die ihn in die Bredouille bringen. Am 14. Dezember 1994 wird Gaudino von Mannheimer Kripobeamten in München festgenommen – vor jenem Studio, in dem er zuvor bei Thomas Gottschalks „Late Night Show“ auftritt. Wegen Beihilfe zum Versicherungsbetrug wird er 1996 zu zwei Jahren auf Bewährung sowie 180 000 D-Mark Geldstraße verurteilt. Autos seien als gestohlen gemeldet worden, die gar nicht gestohlen waren.
Der „Spiegel“ spickt seinen Bericht über das Urteil mit einem Porträt von Gaudinos Heimat. In der Ausgabe Nummer 6 vom 5. Februar 1996 erscheinen auf Seite 66 rechts unten jene Zeilen, die in Mannheim für Empörung sorgen. „Die Rheinau ist weniger Ghetto denn gewachsenes Malocher-Viertel“, beginnt es vergleichsweise harmlos, um dann fortzufahren: „Allerdings haben sich in Rheinau viele Italiener angesiedelt. Der Stadtteil gilt neben Mannheim-Jungbusch als Zentrum des organisierten Verbrechens in Deutschland. Und dass nicht alle Anwohner allein auf den Arbeiterlohn angewiesen sind, lassen die zahlreichen am Straßenrand abgestellten Porsches und Ferraris vermuten.“ Wom!
Am Tag darauf bricht in Mannheim ein Sturm der Entrüstung los. Als „einen neuerlichen Beweis von schlecht recherchiertem Sensationsjournalismus“ verurteilt Oberbürgermeister Gerhard Widder den Bericht. Damit, so der OB, sei dem Ansehen der Stadt insgesamt, aber vor allem dem Stadtteil Rheinau und den dort lebenden Menschen, großer Schaden zugefügt worden.
Die Parteien schließen sich an. Rheinaus SPD-Stadträtin Marianne Bade spricht schlicht von „Schwachsinn“. Als qualifizierten Zeugen führt der „Mannheimer Morgen“ den Leiter der Mannheimer Kriminalpolizei, Manfred Leopold, an. Rheinau falle keineswegs aus dem Rahmen, meint der Kripo-Chef, der selbst auf der benachbarten Hochstätt wohnt.
Doch das Thema gerät auch in den Wettbewerb zweier großer deutscher Pressehäuser: Die „Bild“, seit Ende 1995 mit einer eigenen Rhein-Neckar-Seite, nutzt das Thema, um dem Hamburger Konkurrenten eins auszuwischen und in der Region Profil zu gewinnen. Sie zeigt sich als Verteidigerin des guten Rufes: „Hier tummelt sich nicht die Mafia“, kämpft „Bild“ nun für die Rheinau.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus Dieter Reichardt schreibt an den Herausgeber des „Spiegel“, Rudolf Augstein. Dessen Redakteure müssen wohl „halluziniert“ haben, als sie die Ferraris am Straßenrand gesehen haben, formuliert er in einem Leserbrief, den der „Spiegel“ auch abdruckt. Reichardt lädt die Journalismus-Legende Augstein sogar ein, sich selbst vor Ort ein Bild über die Rheinau zu machen.
„Ihre Empörung vermag ich nicht zu teilen“, lässt der jedoch seinen Sportredakteur Heiner Schimmöller antworten. Im Gegenteil: Der setzt auf den Bericht noch eins drauf: „Der Einstufung Rheinaus als ein Zentrum organisierten Verbrechens sind lange und gründliche Recherchen des ,Spiegel’ vorausgegangen. Dieses Urteil wird auch von den vor Ort ermittelnden Staatsanwälten geteilt.“ Die „Nobelkarossen“ seien den Redakteuren selbst bei Recherchen vor Ort gleich aufgefallen.
Vor Ort sind die „Spiegel“-Leute sicher. Das zeigt die Beschreibung des vielen Rheinauern bekannten Inneren im „Matera“, „einer leicht angeschmuddelten Pizzeria mit Plastikdeckchen und Billigdrucken an der Wand“. Allerdings schreiben die Korrespondenten aus Hamburg die Rheinauer Relaisstraße nur mit einem „s“ – aus Sicht der Rheinauer jedoch der wohl geringste Fauxpas.
SPD-Stadtrat stellt Strafanzeige
Rheinaus SPD-Stadtrat Winfried Höhn erstattet Strafanzeige gegen den „Spiegel“. Indem die Rheinauer und damit auch er selbst in die Nähe der Mafia gerückt würden, sieht er im Strafgesetzbuch die Paragrafen 185 ff. erfüllt: Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung. Die angedeutete inhaltliche Verbindung von italienischstämmigen Rheinauern mit der Mafia sei möglicherweise sogar Volksverhetzung.
Und in der Tat eröffnet die Behörde in L 4, 15 unter dem Aktenzeichen 503 Js 52/96 ein Verfahren wegen „Verdachts der Volksverhetzung“ gegen das Nachrichtenmagazin. Es wird jedoch zuständigkeitshalber bald an die Kollegen in Hamburg abgegeben, wie der „Mannheimer Morgen“ am 18. Mai 1996 berichtet.
Fortan ist davon nichts mehr zu hören. Ebenso wie von den wohl zu offensichtlich überzeichneten Vorwürfen gegen den Stadtteil Rheinau. In dessen Geschichte überleben sie lediglich als amüsante Skurrilität.
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