Europawahl

Vor Europawahl: Mannheimer Historiker zieht Parallelen zu „Goldenen Zwanzigern“

Jochen Streb, Professor für Wirtschaftsgeschichte in Mannheim, spricht im Interview über die „Goldenen Zwanziger“, die Parallelen zu heute - und darüber, was Ängste mit dem Erstarken rechter Parteien wie der AfD zu tun haben

Von 
Kilian Harmening und Anna Pospiech
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Streb glaubt, dass die Veränderungen der vergangenen 20 Jahre in der Gesellschaft ein erhöhtes Bedürfnis nach Sicherheit ausgelöst haben. © Sina Schuldt/dpa

Mannheim. Mit den bevorstehenden Europawahlen steht die Befürchtung im Raum, dass Europa einen weiteren Rechtsruck erleben könnte. Populistische Parteien erleben derzeit einen Aufschwung - auch wenn sich in Deutschland Anfang des Jahres große Menschenmassen für „Demos gegen rechts“ mobilisierten und der AfD eine klare Absage erteilten. Von diesen Protesten ist inzwischen nur noch wenig zu spüren.

In Italien regiert mit Giorgia Meloni und ihren Fratelli d’Italia eine im Faschismus verwurzelte Ministerpräsidentin, in Schweden üben die rechtspopulistischen Schwedendemokraten mit Regierungsmacht aus. In den Niederlanden wurde bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr die radikal rechte Partei von Geert Wilders mit Abstand stärkste Kraft.

Grund genug zu fragen: Woher rührt das zunehmende Interesse an populistischen Parteien? Eine ökonomische und gleichzeitig historische Perspektive darauf hat Jochen Streb. Er ist Professor für Wirtschaftsgeschichte in der Abteilung für Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim - und entdeckt in den Trends der 1920er-Jahre und unserer heutigen Zeit überraschend viele Gemeinsamkeiten. Im Interview spricht er über die Weimarer Republik, die stetig auf ihr Scheitern zusteuerte und über die „Goldenen Zwanziger“, die wirtschaftlich betrachtet alles andere als golden gewesen seien.

Herr Streb, Sie haben verraten, dass Sie gerne einmal persönlich in die Zeit der Weimarer Republik reisen möchten. Was finden Sie daran spannend?

Jochen Streb: Die Weimarer Republik ist politisch und kulturell sehr interessant. Natürlich nimmt es kein gutes Ende mit der Weimarer Republik, und es ist auch nicht besonders golden, was da in den angeblich goldenen 20er-Jahren passiert, aber es ist eine sehr turbulente, wahrscheinlich eine sehr aufregende Zeit gewesen. Wenn man mit ein bisschen Vorwissen da reinginge, wäre es wahrscheinlich sehr spannend, das zu beobachten.

Sie sprechen es an: Die angeblich goldenen 20er-Jahre. Wir alle waren in der Zeit nicht dabei, aber Sie ...

Streb: Ich auch nicht! (lacht)

... beschäftigen sich immerhin im Rahmen Ihrer Lehre viel damit. Warum war die Zeit vielleicht nicht so golden, wie der Begriff vermuten lässt?

Streb: Vielleicht ist diese Idee von „Golden Twenties“ etwas, was aus Amerika rübergeschwappt ist, weil dort die 20er-Jahre wirtschaftlich sehr viel stabiler und von der Aufwärtsentwicklung her gesehen sehr viel tragfähiger waren - bis zur Weltwirtschaftskrise - als in Deutschland. Bis 1923 haben wir Große Inflation in Deutschland, völlige Entwertung der Mark, große Unsicherheit unter der Bevölkerung. Für einige, Gewiefte, eine tolle Chance, ein Vermögen aufzubauen, aber ich glaube, der Großteil der Bevölkerung hat das eher als eine negative Zeit empfunden. Die Mittelschicht verarmt.

Also können die „Golden Twenties“ in Deutschland frühestens Mitte der 20er-Jahre anfangen. Und dann ist es im Herbst 1929 mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise definitiv wieder vorbei. Was passiert dazwischen? Nicht so viel Gutes aus volkswirtschaftschaftlicher Sicht. Wir haben weiterhin eine hohe Arbeitslosigkeit, wir haben eine Investitionsschwäche der Industrie. Also wirtschaftlich gesehen entdecke ich da keine „Golden Twenties“ in Deutschland.

Sehen Sie Parallelen in den Trends der 1920er-Jahre und unserer aktuellen Zeit?

Streb: Es gibt die Vorstellung, dass die Menschen in den 1920er-Jahren, nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo, von der Moderne überfordert waren. Es hat sich zu viel zu schnell geändert und damit sind große Teile der Menschen nicht zurechtgekommen. Der Faschismus in all seinen Ausprägungen war eine Art Antwort darauf, weil er den Menschen wieder Sicherheit und einfache Antworten versprochen hat: Letztendlich in vielerlei Dingen eine Zurückwendung zu alten Vorgehensweisen, zu alten Werten - aber damit auch diese Sicherheit.

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Von
Steffen Mack
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Manchmal denke ich, dass wir gerade wieder in der gleichen Zeit sind, dass zu viele Schocks und Veränderungen auf die Menschen eingeprasselt sind, in den letzten 20 Jahren vielleicht. Auch all die Ängste verbunden mit dem Klimawandel. Und dann die ganzen kurzfristigen Krisen, die obendrauf kommen. Und dass das ein Bedürfnis wiederum - ein starkes Bedürfnis - nach Sicherheit und einfachen Antworten geweckt hat, das von Parteien wie der AfD vermeintlich befriedigt wird. Da sehe ich eine klare Parallelität.

Also würden Sie sagen, dass das Erstarken von rechts-populistischen Parteien in Deutschland und Europa zwar keine Analogie ist, die man 1:1 übertragen kann, aber Sie sehen eine Ähnlichkeit?

Streb: Ja, ich sehe da eine Ähnlichkeit. Ich sehe die Ähnlichkeit von durch zu viele Krisen und Veränderungen überforderten Wählern, die sozusagen die Sicherheit wählen, die scheinbare.

Welche Ereignisse haben zur damaligen Zeit die deutsche Gesellschaft am meisten geprägt?

Streb: Es ist eine Kette von Katastrophen, die beginnt mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Gefolgt von der nächsten großen Katastrophe: Die Idee, dass Deutschland, weil es als einziges Land schuld ist am Ersten Weltkrieg, die Kosten der Kriegsgegner tragen muss, und das über Generationen hinweg. Das hat die öffentliche Meinung sehr stark beeinflusst und gerade den rechten Parteien hervorragende Munition geliefert. Alle Regierungen, die versucht haben, den Versailler Vertrag zu erfüllen, waren aus Sicht der rechten Parteien Verräter.

Dann Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise. Das alles innerhalb weniger Jahre. Eine Aneinanderreihung von wirtschaftlichen, politischen Katastrophen, wohingegen jetzt Dinge wie die Covid-Pandemie, Krieg aus der Ferne oder Great Recession von 2008 heutzutage zumindest für uns in Deutschland relativ harmlos sind, für unsere Generation.

Sie skizzieren all die wirtschaftlichen Unsicherheiten in Deutschland zur damaligen Zeit. Die „Golden Twenties“ waren also eher ein amerikanisches Phänomen?

Streb: Ja, und wie so oft finden dann kulturelle Übertragungen statt. Wenn man jetzt nach den „Golden Twenties“ in Deutschland fragt, hat jeder sofort das Bild im Kopf von einem Berliner Club, in dem Charleston getanzt und Champagner getrunken wird. Und das gab es ja auch. Es war eine künstlerisch sehr kreative Zeit, und das ist auch einer der Gründe, warum ich das gerne miterleben würde.

Sie möchten dann also auch herauszufinden, wie golden die 20er-Jahre wirklich waren, oder ob es nur eine historische Erzählung im Nachhinein war -selbst in die Berliner Clubs gehen können und schauen, wie viel Champagner da wirklich getrunken wird?

Streb: Ja, und wer den da trinkt (lacht). Ob das dann sozusagen die Inflationsgewinner sind. Und natürlich nicht nur nach Berlin gehen, sondern vielleicht auch nach Mannheim, und sich anschauen: Wie ist da die soziale Lage der durchschnittlichen Bevölkerung? Es kann ja beides geben: Es kann eine wirtschaftlich eher depressive Phase sein und trotzdem kulturell interessant, und für bestimmte Eliten eine tolle Zeit zu leben. Und wenn wir dort gewesen wären und wir hätten zu den Champagner-Trinkern gehört, dann hätte uns das wahrscheinlich gut gefallen.

Man sieht daran, wie wichtig es ist, in der Wirtschaftsgeschichte zu forschen und zu suchen, um auch die heutige Zeit besser zu verstehen. Trotz der gegenwärtigen Probleme: Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie für junge Menschen im heutigen wirtschaftlichen Umfeld?

Streb: Zunächst einmal fragen Sie das jemanden, der zwar selbst kein Boomer mehr ist, knapp keiner mehr, aber auch noch in Klassen saß mit 45 Mitschülern, wo der Raum eigentlich nur für 25 Kinder ausgelegt war. Ich bin aufgewachsen, wir, meine Generation, mit der großen Angst vor Arbeitslosigkeit, und was aus uns nur mal werden soll. Zum Beispiel in den Lehramtsstudiengängen hat die damalige Fachschaft immer gesagt: Fangt das bloß nicht an zu studieren, es gibt eh keine Jobs.

Zur Person

  • Jochen Streb ist seit 2011 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Mannheim
  • 2018 wurde er mit dem Preis der Schmölders-Stiftung für Verhaltensforschung ausgezeichnet, 2023 mit dem Lehrpreis der Universität Mannheim. Gemeinsam mit Mark Spoerer ist er Autor des Buchs „Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts“
  • Streb wurde 1966 in Weinheim geboren und wuchs in Hemsbach auf. Von 1985 bis 1990 hat er Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Heidelberg studiert. Vor seiner Zeit in Mannheim war er unter anderem als Professor an der Universität Hohenheim tätig

Und ich glaube, heute ist das, was das angeht, viel entspannter. Es gibt natürlich weiter eine hohe Nachfrage nach qualifizierter Arbeit, und viel weniger Angebot. Ich denke, jede Generation hat ihr eigenes Päckchen zu tragen. Aber aus dieser Sicht: Ich glaube nicht, dass Studierende heute mit der gleichen ökonomischen Zukunftsangst in ihrem Studium sind, wie wir das damals waren.

Um auf das Motiv der „Goldenen Zwanziger“ zurückzukommen: Würden Sie die 2020er-Jahre insofern als goldener bezeichnen?

Streb: Es ist sicherlich keine goldene Zeit. Die „Goldenen Zwanziger“ des 21. Jahrhunderts ähneln schon den „Goldenen Zwanzigern“ des 20. Jahrhunderts.

Aber mehr wegen der Krisen?

Streb: Wegen der Krisen, ja. Und wegen des starken Gefühls von nicht-beherrschbarer Veränderung. Es gab ganz unterschiedliche Ängste, Krisen und Überforderungen, damals wie heute. Aber ich habe das Gefühl, dass gerade die 1990er- oder 2000er-Jahre nicht so stark geprägt waren von diesen Arten von Krisen. Und wenn Sie Umfragen lesen: Wie wird die Zukunft eingeschätzt? Dann eher negativ, aufgrund der ganzen Probleme. Und wenn man dann die Menschen fragt: Und deine persönliche Zukunft? Dann ist das durchaus optimistisch, dass man selbst glaubt, man kann etwas Gutes aus seinem Leben machen.

Das gibt das im Moment wieder, würde ich sagen: keine klare Ausrichtung. Ich glaube, es gibt Möglichkeiten, aber es gibt natürlich auch Gefahren. Und die Gefahren sind auch: Wie wird die Gesellschaft als Ganzes auf diese Unsicherheiten reagieren? Wer weiß, wie die Präsidentschaftswahlen in den USA ausgehen und was das dann bedeutet.

Sie betonen also, das mit den negativen Zukunftserwartungen ist durchaus subjektiv wahrzunehmen: Wenn die Menschen heute sagen, meine Zukunftserwartungen sind negativ, kann das etwas ganz anderes - „harmloseres“ oder „ernsteres“ - bedeuten, als wenn Menschen vor 50 Jahren dasselbe gesagt haben? Es ist ein Spiegel des Wohlstands und des Anspruchs jeder Generation. Die Probleme sind immer ganz andere?

Streb: Ja, das ist die historische Perspektive. Sie müssen immer erstmal überlegen, was sind die Sorgen, die die Menschen jeweils hatten, warum kamen sie zu diesen positiven oder negativen Einschätzungen.

Heutzutage spricht man immer mehr von Selbstverwicklung, dass Gen Z nach Prestige und besseren, flexibleren Arbeitszeiten strebt. Man möchte mehr entscheiden, flachere Hierarchien auf Management-Ebenen. Würden Sie sagen, dass sich daraus neue Chancen ergeben?

Streb: Das sind neue Präferenzen. In meiner Generation war das Gefühl, es ist sehr wichtig, einen regelmäßig bezahlten, sicheren Vollzeit-Job zu bekommen. Das war die klare Priorität und deswegen hat sich von uns keiner über Work-Life-Balance Gedanken gemacht. Den Begriff gab es auch noch nicht. Und jetzt nimmt die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer zu. Die können jetzt neue Bedingungen aushandeln, von denen wir nur träumen konnten. Und das ist eine Chance.

Eine Herausforderung und Chance, sich darüber Gedanken zu machen, wie möchte ich eigentlich die zukünftige Gesellschaft und Wirtschaftsordnung ausgestalten. Einfach zu denken, ich möchte nur noch die Drei-Tage-Woche, ohne sich über die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen Gedanken zu machen, ist falsch. Als Volkswirt weiß man, dass diese individuellen Entscheidungen immer auch eine gesamtwirtschaftliche Wirkung entfalten und man sich dann Gedanken machen muss, wie gestalten wir das alles neu, damit es auch funktioniert.

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