Mannheim. „Dass wir das krabbelnde Kind aus Versehen platt treten würden (. . .) schien uns unwahrscheinlich – das war uns auch bei unserem Führhund nie gelungen. Es in der Wohnung nicht wiederfinden? Unwahrscheinlich, anders als Hausschlüssel oder Stock schreien Babys doch“: Hannah Reuter hat lange in einer Kolumne in der „taz“ Einblicke in ihr Leben als blinde Mutter gegeben. Schonungslos ehrlich und zugleich humorvoll. Daraus entstand ein Buch, aus dem sie am 29. Juni in Mannheim liest.
Für Sehende geschrieben
Die Öffentlichkeit interessiert das Thema, erzählt Reuter im Gespräch mit dem „MM“. Denn die Kombi „Mama ist blind, Papa ist blind, das Kind sieht“ lasse vor allem die Umwelt mit Fragen zurück. „Es ist ein Buch, das ich nie habe schreiben wollen“, sagt sie über ihr Werk. „Weil ich mein Blindsein nicht in den Fokus rücken wollte. Und mit dem Muttersein als Blinde unbelastet bin und es nicht der Rede wert finde. Dennoch wurde ich ständig auf das Thema angesprochen.“
Die Fragen waren: Wie kriegt ihr das hin mit dem Familienleben? Wie macht ihr dies und das mit dem Kind? „Eigentlich hab’ ich das Buch mehr für die Sehenden geschrieben“, sagt Reuter. „Ach, das ist ja alles wie bei uns“, hätten die ihr dann nach dem Lesen gesagt. Und genau das ist es, was Reuter zeigen will und was ihr Anliegen ist, mit dem sie nach Mannheim kommt: dass die Gesellschaft blinde Eltern als normal wahrnimmt. Dass andere Vorbehalte haben, weiß sie. Sie schreibt: „Blinde Eltern werden ständig überprüft. Nicht nur im Jugendamt, auch im Bus und in der Nachbarschaft wird geguckt und kommentiert.“ Die öffentliche Wahrnehmung von Blinden, dass man ihnen das Elternsein nicht zutraut, stört Reuter. Das müsse sich ändern, so die Autorin.
Probleme sind universal
„Es hat natürlich viel mit Angst zu tun. Aber jedes Elternteil kennt das, egal, ob sehend oder nicht. Es ist etwa eine große Angstvorstellung, dass das Kind wegrennt“, sagt sie. Doch auch bei Blinden sei eine solche Situation „Learning bei Doing“. „Das Kind lernt schnell, wenn ich der blinden Mama wegrenne, dann steh’ ich alleine im Regen“, sagt sie. „Man muss vertrauen. Versuchen, entspannt zu bleiben. Und vor allem kommunizieren.“ Und zwar stetig. „Blinde Eltern können keine Helikoptereltern sein“, sagt Reuter und lacht. „Das geht einfach nicht.“
Aber man organisiere sich eben. Wie alle Eltern. „Bei uns gibt es sogenannte Verkehrsregeln, heißt, dass das Kind sich nicht zu weit aus dem Radius neben uns entfernt“, sagt sie. „Und dass es gleich Rückmeldung gibt, wenn man es fragt.“ Alles sehr wichtig – und lernbar, sagt die Mutter. Mit Tiefgang, Humor und Selbstironie erzählt die Berlinerin in ihrem Buch von solchen Situationen. Zwischen Fakten rund um Elternassistenz, Trotzphase und Co. beschreibt sie oft auch, was ihr fehlt: mehr Pixibücher zum Vorlesen etwa. Aber dazu bräuchte die blinde Mutter die Version mit Brailleschrift. Kinderbücher mit dieser sind sehr teuer, oft 60 Euro aufwärts. Was passiert, wenn das Kind beim Bilderbuch anschauen „Guck mal, Mama“ sagt, und warum das eigentlich „Fass mal an“ bedeutet, gibt es in ihrem Werk zu lesen. Dabei schafft sie es, mit ihrem Schreibstil detailliert und pointiert in kurzen Sätzen zu beschreiben, was ist. Und gibt zugleich ihre Gefühlswelt preis, schnörkellos, aber doch emotional.
Lesung im Dalberghaus am 29. Juni
- Rund um den diesjährigen Sehbehindertentag findet vom 1. bis zum 30. Juni der bundesweite Aktionsmonat „Sehbehindertensonntag“ statt.
- Anlässlich des Aktionsmonats liest Autorin Hannah Reuter in der Stadtbibliothek Mannheim am Mittwoch, 29. Juni, 19 Uhr, im Dalbergsaal im Dalberghaus, N 3,4, aus ihrem Buch „Blind mit Kind“.
- Der Eintritt ist kostenlos, Anmeldung erforderlich unter Telefon 0621/293-8935 oder Email:stadtbibliothek.paedagogik@mannheim.de.
- Initiatoren des Aktionsmonats sind der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) und mehrere kirchlich orientierte Vereinigungen wie der Dachverband der evangelischen Blinden- und evangelischen Sehbehindertenseelsorge und das Deutsche Katholische Blindenwerk.
- Nach Hochrechnungen aus Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO gibt es mehr als eine Million sehbehinderte Menschen in Deutschland. Um auf die Bedürfnisse dieser Menschen aufmerksam zu machen, hat der DBSV im Jahr 1998 einen eigenen Aktionstag eingeführt: den Sehbehindertentag am 6. Juni.
- Die Veranstaltung findet statt in Kooperation mit dem Badischen Blinden- und Sehbehinderten V.m.K. und der Beauftragten für die Belange für Menschen mit Behinderungen, Ursula Frenz.
Existenzielle Fragen vor Geburt
Auch bei existienziellen Themen nimmt Reuter, die von Geburt an blind ist, kein Blatt vor den Mund. Im Gespräch mit ihrem Mann, der 2007 nach einer Netzhautablösung erblindete, geht sie auf die Angst vor dem Vererben des Blindseins ein: „Es ist eine Sache, zufällig oder später blind zu werden, und eine andere, jemanden sehenden Auges (haha!) ins Unglück zu gebären. In dieser Unsicherheit half es, uns das drohende Unglück einmal genau auszumalen. Würde unser Kind ein freudloses Dasein im Dunkeln fristen, am Rande der Gesellschaft, ewig mit seiner Behinderung kämpfend – ungefähr so wie wir?“ Und sie schreibt weiter: „Das klang verantwortbar! Wer, wenn nicht wir, könnte einem blinden Kind zeigen, mit dieser Behinderung glücklich zu leben!“ Menschen, die sehen können, wird durch Reuter mit kurzen, humorvollen und zugleich berührenden Alltagsreportagen die Möglichkeit gegeben, ihre Perspektive zu verändern und ihre Vorstellungen über Blindheit zu hinterfragen.
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