Mannheim. In Mannheim während der Kaiserzeit anno 1898 geboren, in New York 1982 gestorben. Und dazwischen ein schillerndes Leben als Journalistin, Schriftstellerin, vermeintliche Spionin, außerdem als Gattin eines Gynäkologen, Großverlegers und ungarischen Grafen. Jetzt hat die Edition Memoria die bereits 1934 in den USA erschienene Autobiografie der nahezu vergessenen Rosie Gräfenberg-Ullstein / Gräfin Waldeck auf Deutsch herausgebracht. Titel: „Vorspiel zur Vergangenheit“. Und darin blitzt das großbürgerliche Leben einer jüdischen Bankiers-Familie Anfang des 20. Jahrhunderts in einer „gänzlich unfeudalen“ , aber im Liberalismus verwurzelten Stadt auf - wie die Autorin Mannheim charakterisiert.
Die älteste Tochter einer „ausnehmend schönen“ Mutter und des erfolgreichen Privatbankiers Max Goldschmidt wächst erst im Quadrat P 7 auf, ehe die Familie in die Otto-Beck-Straße Nr. 38 umzieht. Die dort erbaute Villa mit neubarocker Fassade, noblen Salons und fest eingebauter Bibliothek haben der Mannheimer Architekt Ernst Plattner (von ihm stammt auch die Villa Rothschild, Spinozastraße 41) und dessen damaliger Partner Huge entworfen. „Die Bank meines Vaters war wohlbekannt in Deutschland“, schreibt die Autorin. Die Liquidation des Geldinstituts „Marx & Goldschmidt“ 1937 sollte der Gründer und Mitinhaber nicht mehr erleben.
Rosie Gräfenberg fühlt sich zum Mathelehrer hingezogen
Für Max Goldschmidt „war ein deutscher Jude ein Deutscher“, schildert die Tochter und ergänzt, dass ihr Vater darauf beharrte, „dass es so etwas wie Antisemitismus gar nicht gibt“. Wie schon das Familienoberhaupt davor engagiert sich auch der Bankier als Vorsitzender der großen jüdischen Gemeinde und wird Mitglied des Oberrates der Israeliten. „Mein Vater war nicht religiös“, so die Tochter, er habe es aber „als Frage des guten Geschmacks“ empfunden, „ein loyaler Jude“ zu sein.
Info: Rosie Gräfenberg-Ullstein
- Die gebürtige Mannheimerin macht im Berlin der 1920er Jahre als Journalistin Furore, lernt so den deutlich älteren verwitweten Großverleger Franz Ullstein kennen, den sie 1929 heiratet - ein Skandal.
- Wilde Gerüchte machen aus ihr eine Spionin, sie gewinnt aber alle Prozesse gegen den Ullstein-Clan und obendrein eine satte Abfindung.
- In den USA, wo sie später zum Katholizismus konvertiert, schreibt die Journalistin und Kriegsreporterin als „Countess Rosie Waldeck““ für renommierte Magazine. Ihre historisch gefärbten Romane sind auch in Europa erfolgreich, ihr letztes politisches Buch „Europe Between The Acts“ (1951) findet aber wenig Resonanz.
- Schwester Ella und die Mutter holt sie aus dem Nazi-Deutschland. Johanna Goldschmidt begeht 1940 in den USA Suizid. 1982 stirbt Tochter Rosie einsam in New York.
- Die Zier-Grabsäule des 1926 verstorbenen Vaters Max Goldschmidt erhebt sich bis heute auf Mannheims Jüdischem Friedhof.
- Die Edition Memoria, spezialisiert auf Exilliteratur, bringt die 320-Seiten-Autobiografie „Vorspiel zur Vergangenheit“ , 1934, von Rosie Gräfenberg, erstmals auf Deutsch heraus. Preis: 24 Euro.
Rosa Goldschmidt, meist Rosie oder Ro genannt, legt am Karl-Friedrich-Gymnasium, das bereits Koedukation praktiziert, als eine der wenigen Schülerinnen das Abitur ab. Die Jungs in der Klasse empfindet sie als kindisch. Ohnehin fühlt sie sich zum Mathelehrer hingezogen, der ihr Nachhilfe gibt. „Es war die längste Liebe meines Lebens.“ Auch wenn die Beziehung der Jugendlichen mit den zu Schneckenhäusern gelegten Zöpfen zu dem mehr als doppelt so alten Schwarm Michael, von einigen Küssen abgesehen, platonisch bleibt, prägt diese wohl die Faszination für reife Männer. Schließlich wird sie als 31-Jährige den um drei Jahrzehnte älteren Franz Ullstein heiraten - zum Entsetzen der prozessierenden Verleger-Familie.
Als der Erste Weltkrieg ausbricht und in der Goldschmidt-Villa „Schrapnell-Splitter einer Granate im Wohnzimmer knapp oberhalb der Vitrine mit kostbarem China-Porzellan einschlagen“, da beflügelt die noch naiv heroisch fühlende 16-Jährige ein mit „Geheimhaltung und Lügen“ verwobenes Doppelleben: Mit ihrem Nachhilfelehrer trifft sie sich in der Kunsthalle. Dort sitzen die beiden händchenhaltend auf jenem Sofa, wo Manets „Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko“ hängt - bis das berühmte Monumentalgemälde (bis heute Prunkstück der Kunsthalle) in Sicherheit gebracht wird. Das Plaudern eines Mitschülers sorgt dafür, dass die „unangemessene Beziehung“ auffliegt und der Lehrer versetzt wird. Die neuen Mathe-Nachhilfestunden „waren fortan nicht mehr Tor zum Paradies, sondern die Hölle“.
Rosa lenkt sich mit Kultur von Liebeskummer und Krieg ab, versäumt keine Theater-Inszenierung. Begeistert schreibt sie von jenem Silvesterabend anno 1916 oder auch 1917, als sich in der Villa des väterlichen Bank-Kompagnons Hermann Marx der Erste Mannheimer Theater-Kapellmeister und später legendäre Dirigent Wilhelm Furtwängler - „jung, blond und strahlende blaue Augen“ - herablässt, bei einem Hauskonzert den Takt vorzugeben. Dass Rosa Goldschmidt nach Abi und kurzem München-Intermezzo an der Universität Heidelberg über die Soziologie des Theaters promoviert, mutet folgerichtig an. Gerade mal 22 Jahre alt, legt sie die beste Doktorarbeit des Sommersemesters 1920 vor. Prädikat: „summa cum laude“.
Franz Ullstein beschreibt Lustzentrum der Frau
Danach verlässt das so intelligente wie impulsive Fräulein Doktor die Heimatregion Rhein und Neckar, kehrt aber kurz nach Mannheim zurück, um sich in der Familien-Villa von einem Rabbi, ihrem einstigen Religionslehrer, mit dem jüdischen Berliner Frauenarzt Ernst Gräfenberg trauen zu lassen - in einem weißen Kreppsatin-Kleid, Myrtenkranz und Schleier, wie sie erzählt. Ihre erste Ehe beginnt in jener Ära, als Brotlaibe mehrere Millionen Mark kosten, und wird am Ende der Hyperinflation geschieden. Gleich ihrem zweiten Gatten Franz Ullstein geht auch Gräfenberg in die Geschichte ein: Als erster Gynäkologe wird er später das Lustzentrum der Frau beschreiben - in der Medizinliteratur „G-Punkt“ genannt.
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Noch vor der Nazi-Machtergreifung emigriert Rosa in die USA, weilt aber auch in Europa. Die 1937 mit dem ungarischen Grafen Armin von Waldeck geschlossene Phantom-Ehe soll wohl bessere Chancen jenseits des Ozeans eröffnen. Im Nachwort wird ein Journalist zitiert: „Gräfin Waldeck wurde sie, als sie zwischen zwei Zügen in Budapest den Grafen heiratete und ihm für diese Gefälligkeit eine gewisse Summe zahlte.“
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