An einem Sommertag vor einigen Monaten konstatierte Bundesfamilienministerin Lisa Paus nach mehreren Angriffen auf Frauen in Berlin: „Unser Land hat ein massives Gewaltproblem gegen Frauen. Das muss aufhören.“ Die Bundesfamilienministerin betonte, sie wolle ein Gewalthilfegesetz auf den Weg bringen, das im besten Fall auch Interventionsstellen vorsieht, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Polizei, aus der Justiz und aus dem Opferschutz zusammenarbeiten. Ein solches engmaschig verwobenes System hätten sich im September 2011 auch viele Frauen in der Region gewünscht, als sie realisierten: Wir sind Teil eines einzigartigen Kriminalfalls.

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7. September 2011: Der Frankenthaler Oberstaatsanwalt Lothar Liebig eröffnet eine Pressekonferenz und bestätigt, was einige Journalistinnen und Journalisten da bereits vermuten. In einer Frauenarzt-Praxis im vorderpfälzischen Schifferstadt sind Patientinnen „in der Untersuchungssituation heimlich, unzulässig fotografiert worden.“ Den Beamten lägen Ganzkörperaufnahmen vor und Bilder von einzelnen Körperregionen. „Insgesamt gehen wir von mindestens 35 000 Bildaufnahmen aus“, sagt Liebig. Ein Raunen geht durch den Raum. Mindestens 35 000 Bildaufnahmen, über 1400 betroffene Frauen. Ein unglaublicher Vertrauensbruch.
Jetzt anhören: True-Crime-Podcast "Verbrechen im Quadrat"
Im True-Crime-Podcast "Verbrechen im Quadrat" taucht Gerichts- und Kriminalreporterin Agnes Polewka in wahre Kriminalfälle ein, die Mannheim und die Rhein-Neckar-Region erschüttert haben.
Alle Folgen der Staffel, zahlreiche Hintergründe und Berichte gibt es hier
In der ersten Episode der neuen Staffel des True-Crime-Podcasts des „Mannheimer Morgen“ rekonstruiert Gerichts- und Kriminalreporterin Agnes Polewka die Geschichte eines Gynäkologen aus Schifferstadt, der über Jahre unentdeckt Bild- und Videoaufnahmen von seinen Patientinnen anfertigte.
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In der vorderpfälzischen Kleinstadt trifft Polewka die ehrenamtliche Gleichstellungsbeauftragte Ute Sold (oberes kleines Bild). Sold hört im Spätsommer 2011 erstmals davon, dass in einer Frauenarztpraxis in Schifferstadt Frauen fotografiert worden sein sollen. Später erfährt sie, dass die gynäkologische Praxis betroffen ist, in der sie selbst Patientin ist. Und irgendwann bekommt sie Post von der Polizei und weiß, dass auch sie fotografiert worden ist. Allerdings sei das nicht das Schlimmste gewesen, sagt Sold, die damals mit einer Therapeutin eine Selbsthilfegruppe für Betroffene gründet. „Das Schlimmste waren die Geschichten der Frauen“, sagt sie. Die Unverfrorenheit ihres Frauenarztes, dem sie vertraut habe. „Es gab Frauen, die haben in ihrer Kindheit Missbrauch erlebt – die hat er wohlwissend fotografiert“, so Sold. Anderen habe er die Krebsdiagnose eröffnet, anschließend habe er auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt.
Neben Ute Sold erinnert sich in der Podcast-Folge „Der Gynäkologe“ auch Rechtsanwalt Steffen Lindberg aus Mannheim an den Fall. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe kontaktieren ihn Frauen, viele Frauen, die einen Rechtsbeistand suchen, der sie im Zivilverfahren vertritt.
Lindberg übernimmt mehrere Dutzend Mandate von Frauen in den Prozessen, in denen es um Schmerzensgeld und Schadensersatzansprüche geht. Irgendwann nimmt er keine neuen Mandantinnen an, weil er kanzleiintern „keinen Wettlauf der Gläubiger“ möchte. Denn Medienberichten zufolge ist die finanzielle Lage des Frauenarztes schon bald desaströs. Dann kommt es zum Strafverfahren, einem sehr besonderen Strafverfahren. In der ersten Folge der neuen Staffel rekapituliert die ehemalige Nachrichtenjournalistin Sandra Cartolano den Prozess, der im September 2013 vor dem Landgericht in Frankenthal beginnt. Cartolano beschreibt bewegende Momente während der Verhandlung, die sie ab dem Spätsommer 2013 für die Deutsche Presseagentur (dpa) begleitet.

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Im November 2013 wird der Gynäkologe verurteilt. Zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe. Er muss ins Gefängnis, weil er den höchstpersönlichen Lebensraum seiner Patientinnen laut Gericht in 1464 Fällen missachtet hat. Und wegen drei Fällen sexuellen Missbrauchs. Davon ist das Gericht aufgrund eines Sachverständigengutachtens überzeugt, der Videoaufnahmen gesichtet hat, die der Gynäkologe neben den Bildaufnahmen gefertigt hat.
2015 wird das Urteil rechtskräftig, der Gynäkologe kommt ins Gefängnis. Heute ist er wieder frei.
Dort kann man den Podcast hören
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