Mannheim. Etwas Wehmut kommt in Konrad Stockmeier bei dem Gedanken doch auf, bald ohne Marie-Agnes Strack-Zimmermann Sitzungsdienste im Bundestag verrichten zu müssen. Seine Fraktionskollegin wird am 9. Juni für die FDP ins Europäische Parlament einziehen – und aus dem Bundestag ausscheiden. Als Spitzenkandidatin der Freien Liberalen in Deutschland und der liberalen Europapartei Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa besteht daran kein Zweifel. „Ich gehöre zu denen, die gerne Plenardienste machen, weil ich weiß, wenn Marie-Agnes in der Nähe ist, ist Stimmung in der Bude“, sagt Mannheims FDP-Abgeordneter mit einem Lachen in der Jüdischen Gemeinde.
In dem voll besetzten Gemeindehaus – nicht alle finden Sitzplätze – hat Strack-Zimmermann die Liberalen gerade auf den Europa-Wahlkampf eingeschworen. Es ist ein Abend, der in Erinnerung bleiben wird. Das liegt zum einen an der Protagonistin selbst, die mehr als eine Stunde lang frei und rhetorisch gewieft spricht, eine große thematische Breite bedient und an vielen Stellen mit feiner (Selbst-)Ironie zu überzeugen weiß. Das wollen auch Mitglieder sogar anderer Parteien und Gemeinderatsfraktionen nicht verpassen, die im Publikum sitzen.
Strack-Zimmermann warnt in Mannheim: Zeit spielt für Putin
Zum anderen liegt das aber auch an der sich parallel erneut dramatisch zuspitzenden Situation in Nahost. „Hüte uns Gott, dass der Iran Israel nicht angreift. Hüte uns Gott, dass das nicht passiert und dass die Diplomatie – die Türkei, China und andere Staaten – auf den Iran mäßigend einwirkt“, sagt Strack-Zimmermann um kurz nach halb neun, ohne zu wissen, dass zeitgleich der Iran bereits Drohnen und Raketen in Richtung Israel abschießt.
Strack-Zimmermann gehört zu den schillerndsten, vor allem den streitbarsten Bundestagsabgeordneten. Die Verteidigungspolitikerin eckt an – auch in der eigenen Koalition, wenn es etwa um die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine geht. Zwar hält sich die Liberale dazu in Mannheim mit markanten Forderungen zurück. Allerdings warnt sie vor der Gefahr, wenn die europäische Solidarität mit und Unterstützung der Ukraine zurückginge und Europa zu wenig in die eigene Verteidigung investieren würde. Dann spiele die Zeit für Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Strack-Zimmermanns familiäre Ursprünge in Mannheim
„Wir sind an diesem Punkt angekommen“, sagt Strack-Zimmermann und erklärt, Russland investiere bereits 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die eigene Kriegsindustrie. „Das ist nicht alles gut, das ist nicht alles präzise – aber zum Zerstören reicht es völlig“, sagt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. „Und in Deutschland diskutieren wir über zwei Prozent.“ Putin, ist sie überzeugt, bereite sich darauf vor, andere Länder zu überfallen. „Wer glaubt, es hört vor dem Baltikum auf, den warne ich: Er wird nicht aufhören, wenn wir ihm jetzt nicht das ganz große Stopp-Schild entgegenhalten.“
Strack-Zimmermann spricht außerdem über ihren „sehr engen Bezug“ zu Mannheim, wo ihre Großmutter und Mutter geboren wurden. In ihrer Kindheit habe sie viel Zeit hier verbracht. „Das mit den Quadraten habe ich zwar nie verstanden. Das macht aber nichts.“
Die heute 66-Jährige erzählt von ihren Anfängen in der Düsseldorfer Kommunalpolitik, wo sie auch als Bürgermeisterin bereits viel Bürokratie kennengelernt habe. Sie erinnert sich an ihren Wechsel in die Bundespolitik – und spricht über ihr Ziel, das Europa politisch zu gestalten, das derzeit „im wahrsten Sinne unter Feuer steht“.
Kritik von Strack-Zimmermann in Mannheim an Ursula von der Leyen
Die Spitzenkandidatin der Liberalen betont die Vorzüge der Europäischen Union, etwa die Bewegungs- und Reisefreiheit oder das friedliche Zusammenleben. Weil sie aber auch etwas verändern möchte und der Besuch nicht nur aus familiärer Nostalgie heraus geschieht, sondern Wahlkampf ist, kritisiert sie mehrfach vor allem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Die CDU-Politikerin habe die Bürokratisierung aus- statt abgebaut, worunter Europas Wirtschaft „massiv“ leide. Außerdem habe sie – obwohl frühere Verteidigungsministerin – die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik vernachlässigt.
Keine Fragen aus dem Publikum in Mannheim vorgesehen
„Als ehemalige Arbeitsministerin müsste Frau von der Leyen auch wissen, was es für ein Land bedeutet, wenn man es zu Tode reguliert“, sagt Strack-Zimmermann. Sie äußert ihr Unverständnis über die „drei Zentner Papier“ aus Brüssel, die mittelständische Unternehmen bearbeiten müssten. Natürlich sei es richtig, Lieferketten nachzuweisen. „Es ist völlig ausgeschlossen, dass unser Wohlstand darauf basiert, dass ärmste Menschen und Kinder produzieren müssen“, stellt Strack-Zimmermann klar. „Die Regelungen müssen aber auch umsetzbar sein.“ Strack-Zimmermann streichelt die Seele der Liberalen im Saal, indem sie etwa die „Work-Life-Balance“ der jüngeren Generation – süffisant-ironisch – nachvollziehen kann, aber auch betonen will, dass die Wirtschaftskraft mit jedem Arbeitstag weniger nachlassen würde.
So streitbar und meinungsstark Strack-Zimmermann ist, so bedauerlich ist es gerade deshalb, dass keine Fragen aus dem Publikum vorgesehen sind. Das tut der Qualität des Vortrags keinen Abbruch – der Veranstaltung insgesamt hätte es aber wahrscheinlich auch nicht geschadet. Im Gegenteil. „Wir müssen diskutieren und auch im guten Sinne streiten“, sagt Strack-Zimmermann während ihres Vortrags angesichts des politischen Klimas selbst.
Strack-Zimmermann in Mannheim: "In der Ampel läuft nicht alles rund"
Selbstkritisch räumt sie ein, dass in der Ampel „nicht alles rund“ laufe. Auch wenn es kommunikativ manchmal „rustikal“ zugehe – „ich schließe mich da durchaus mit ein“ – lägen die Probleme vor allem im Angriff Russlands auf die Ukraine 70 Tage nach Beginn der Koalition begründet. „Alles, was wir machen, muss darauf reflektiert werden.“ Man müsse trotzdem über Probleme sprechen dürfen und sie politisch anpacken. Aber: „Nichts kann so ärgerlich sein, dass man aus Protest die radikale AfD und das BSW wählt.“ Die würden aus NATO und EU austreten wollen, was unseren Frieden gefährde. „Es liegt an uns, das zu verhindern.“
Auch daran wird Strack-Zimmermann im Europäischen Parlament arbeiten. Der Diskussionskultur im Bundestag wird sie dann auch fehlen – wohl nicht nur Konrad Stockmeier.
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