Stadtgeschichte - Das Kultlokal „Vienna“ in S 1, 15 heißt zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Großer Hirsch“ – und hat mit Anton Geiß einen später bedeutenden Besitzer

Späterer Staatspräsident einst Wirt im Mannheimer "Vienna"

Von 
Konstantin Groß
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Das Café Vienna in S1 ist vor allem bei Studierenden sehr beliebt. © café Vienna

Mannheim. Kultkneipe - dieses Attribut trägt das „Vienna“ in den Mannheimer Quadraten bei seinen Fans. Kaum einer der Gäste, die zum Speisen oder Feiern einkehren, weiß jedoch, dass es auch ein Haus mit großer Geschichte ist: Die Hirsch-Figur an der Fassade über dem Eingang ist keineswegs Anklang an das sprechende Geweih in der „Jägermeister“-Werbung. Sie zeugt vielmehr vom einstigen Namen dieser Lokalität und dem später prominenten Wirt: Anton Geiß, 1918 erster Staatspräsident Badens.

Wahl-Mannheimer: Anton Geiß nach dem Ersten Weltkrieg als Badischer Staatspräsident mit einem Autogramm, damals „Autographie“ genannt. © Archiv

Klar, das Lokal ist selbst bereits ein legendäres Stück Stadtgeschichte. 1971 wird es als „Old Vienna“ am Kurpfalzkreisel in U 1 eröffnet. Als 2006 die Abendakademie dort baut, muss es weichen, zieht nach S 1, 15 um - in ein Haus, das bereits in den 1960er und 1970er Jahren unter dem Namen „Mandarin“ eines der frühen China-Restaurants beherbergt.

Treues Publikum

Diesen „Umzug“ übersteht die Gastro-Institution gut, Corona aber setzt ihr zu. Und wieder zeigt sich, dass das „Vienna“ etwas Besonderes ist. Eine Spendenaktion findet große Resonanz: Innerhalb der ersten Woche melden sich 400 Förderer (wir haben im November berichtet). Sie alle wollen nicht, dass das „Vienna“ stirbt. Auch wenn kaum einer von ihnen weiß, dass hier einst ein berühmter Mann als Wirt wirkt. Jener Anton Geiß ist nämlich eine historische Persönlichkeit des deutschen Südwestens. Nach Ende des Ersten Weltkrieges steht er an der Spitze Badens - als Staatspräsident.

Geboren wird er jedoch 1858 als Sohn eines Landarbeiters im Allgäu. Seine 17 Wanderjahre führen den jungen Schreiner durch ganz Deutschland und die Schweiz und schließlich 1891 nach Mannheim.

Das Lokal „Hirsch“, das Anton Geiß ab 1905 führt, ist heute das „Vienna“. © Konstantin Groß

Wie viele Handwerker in jener Zeit, betreibt Geiß hier als zweites Standbein eine Gastwirtschaft. 1895 übernimmt er im Innenstadt-Quadrat T 5, 1 (unweit der historischen ersten Garage von Carl Benz in T 6) den „Englischen Garten“.

Noch heute Figur und Namenszug

1905 wechselt Geiß auf den „Großen Hirsch“ in S 1, 15 - eben das heutige „Vienna“. Das Relief und der Namenszug oberhalb des Türrahmens erinnern noch daran. Der Laden muss gut gelaufen sein, denn im Jahr darauf kauft Geiß das Haus, dessen Ursprünge bis ins erste Jahrzehnt nach der Stadtgründung 1607 reichen. Manche später berühmte Persönlichkeiten gehen hier ein und aus, wohl auch der künftige Reichspräsident Friedrich Ebert, der bekanntlich in Heidelberg aufwächst, dazu andere Sozialdemokraten.

Denn im Jahr seiner Ankunft in Mannheim tritt Geiß der SPD bei, beginnt eine steile Karriere: Stadtverordnetenversammlung, Stadtrat, schließlich Landtag in Karlsruhe, dessen Erster Vizepräsident er wird. Den „Hirsch“ hat er zu diesem Zeitpunkt natürlich längst abgegeben.

Seine historische Stunde schlägt am Ende des Ersten Weltkrieges. Inzwischen Landesvorsitzender der badischen SPD, wird Geiß am 9. November 1918 in Karlsruhe zum Vorsitzenden der „Vorläufigen Volksregierung“ ernannt - in Abwesenheit übrigens, denn er befindet sich gerade in Mannheim; dort erhält er per Telegramm die Nachricht: „Komm sofort nach Karlsruhe. Du bist Ministerpräsident!“ Nach Abdankung des Großherzogs fünf Tage später trägt er den Titel „Staatspräsident“.

Im Alter von 60 Jahren wird dieser Mann vom Lauf der Zeit in eine dramatische historische Situation gestellt: Hunger, Not, Massenarbeitslosigkeit durch Demobilisierung eines Millionenheeres. Dank seiner besonnenen Politik können sinnlose Todesopfer, wie sie in den Straßen von Berlin oder München zu beklagen sind, in Karlsruhe und auch in Mannheim verhindert werden.

Geiß setzt in Baden - ebenso wie sein Parteifreund Friedrich Ebert auf Reichsebene - die Bedürfnisse der Menschen vor Partei-Ideologie. Das ganz praktische Funktionieren des öffentlichen Lebens vor allem in den Bereichen Ernährung und Versorgung sowie der Aufbau demokratischer Institutionen sind ihm wichtiger als gesellschaftliche oder ökonomische Umwälzung.

Die von ihm auf den Weg gebrachte neue Verfassung Badens orientiert sich an der benachbarten Schweiz. Wie dort, ist der Staatspräsident in der Regierung primus inter pares (Erster unter Gleichen) und wird jährlich neu gewählt. Geiß wird der Erste, der das Amt übernimmt, im Jahr darauf sogar bestätigt. 1920 gibt er es an einen Politiker der katholischen Zentrums-Partei ab.

Lebensabend in Schriesheim

Danach zieht Geiß sich aus der aktiven Politik zurück. Seine Wohnung in Karlsruhe gibt er auf, kehrt zurück nach Mannheim, 1933 geht er nach Schriesheim. Hier gibt es ein Pflegeheim des Landkreises, in dem seine kranke Frau die nötige Betreuung erhält. Zudem hofft er, in der Abgeschiedenheit der Bergstraße die NS-Zeit unbeschadet zu überstehen.

Das gelingt. Geiß stirbt friedlich am 3. März 1944 im gesegneten Alter von 85 Jahren. Nur um ein Jahr verpasst er die Befreiung Deutschlands von der Diktatur des Nationalsozialismus und das Wiedererstehen eines demokratischen Baden, ab 1952 als Teil des neuen Südweststaates.

Eine offizielle Würdigung des toten Staatsmannes durch den zum NS-„Gau“ degradierten Badischen Staat erfolgt 1944 natürlich nicht. Erst anlässlich seines 75. Todestages 2019 wird dies bei einem Festakt in Schriesheim im Namen der Landesregierung von Wissenschaftsministerin Theresia Bauer nachgeholt.

Das Grab von Geiß befindet sich auf dem Friedhof von Schriesheim, seit 2016 eine Gedenktafel an seinem früheren Wohnhaus in der Schriesheimer Altstadt. An seinem einstigen Gasthaus in Mannheim erinnert mit Ausnahme der Hirsch-Figur an der Fassade nichts an den berühmten Vorbesitzer. Aber auch sonst wird in der Stadt seines langjährigen Wirkens an Anton Geiß leider nirgendwo weithin sichtbar gedacht.

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