Tiefschwarzer Asphalt, blütenweiße Fahrbahnmarkierungen, alles ganz frisch – und frei. Eine breite Autostraße nur mit dem kleinen Fahrrad befahren, darauf herumrennen zu dürfen – das zählt zu den bleibenden Kindheitserinnerungen. Auch wenn der autofreie Sonntag schon 50 Jahre her ist, so hat sich das Erlebnis auf der damals gerade eingeweihten neuen Schnellstraße B 38 a doch irgendwo ganz tief im Gehirn eingebrannt, so ungewöhnlich war es damals und ist es bis heute.
Die B 38 a ist kaum in Betrieb genommen, schon darf sie nicht befahren werden. 2,1 Kilometer ist dieses Teilstück vom Rhein-Neckar-Schnellweg zwischen Neckarau und Feudenheim lang, darunter die 750 Meter lange neue Brücke über den Neckar. Erst 1982 wird sie offiziell nach dem ersten Mannheimer Bundestagsabgeordneten Carlo Schmid (SPD), Bundestagsvizepräsident und einer der Väter des Grundgesetzes, benannt.
36 Millionen Mark werden für die gesamte Trasse verbaut. Der erste Autofahrer, der die Strecke im November 1973 offiziell passiert, ist der Postbeamte Hans Bauer aus Feudenheim. Vom baden-württembergischen Verkehrsminister Rudolf Eberle bekommt er einen Geschenkkorb, es gibt Flaggenschmuck und Musik einer Heidelberger Trachtenkapelle sowie viele Ansprachen.
Öl als Waffe der Araber
Von einer enorm wichtigen Verkehrsader ist die Rede, die da nun in Betrieb gehe. Dennoch hat der Bau lange gedauert, und als Anfang der 1970er Jahre die erste große Wirtschaftskrise die Zeiten des „Wirtschaftswunders“ jäh abbrechen lässt, dreht kurzerhand der Bund den Geldhahn zu, und es kommt sogar zu einem zeitweiligen Baustopp. Aber dann setzt sich doch die Erkenntnis durch, dass der wachsende Autoverkehr eine weitere Neckarbrücke zwischen der schmalen Überfahrt bei Seckenheim und der Friedrich-Ebert-Brücke braucht.
Das soll ja alles erst der Anfang sein. Der Rhein-Neckar-Schnellweg ist als viel größeres Projekt gedacht. Im Süden mit einer Brücke über den Rhein bei Altrip, beim Flugplatz Neuostheim mit einem riesigen Bauwerk für einen kreuzungsfreien Anschluss an die B 37. Die schon angefangenen Betonrampen, die im Nichts enden, sieht man noch heute. Und unterhalb der Auffahrt am Feudenheimer Bunker ist erkennbar, dass die Straße da eigentlich ebenerdig nach Norden weitergehen sollte – durch einen kleinen Tunnel unter der Feudenheimer Straße hindurch, quer durch Au und das Spinelli-Gelände bis zu einem Anschluss auf die B 38 Richtung Weinheim in Höhe der „SEL-Kurve“. Bis weit in die 1980er Jahre ist diese – wegen der Au später höchst umstrittene – Streckenführung als gestrichelte Linie auf Stadtplänen verzeichnet. Es ist eben die Zeit, als die autogerechte Stadt als das große Leitbild gilt.
Umso größer ist der Schock, dass die Autos plötzlich stehenbleiben sollen. Grund ist ein Krieg im Nahen Osten. Am 3. Oktober 1973 überfallen syrische Truppen Israel, das von dem Angriff an Jom Kippur – ausgerechnet dem Versöhnungstag, dem höchsten jüdischen Festtag – völlig überrascht wird. Doch die israelische Armee kann die Schlachten gegen syrische und auch gegen die ägyptischen Soldaten für sich entscheiden. Schon am 25. Oktober kommt es zum Waffenstillstand.
Allerdings setzen die arabischen Staaten dann eine andere Waffe ein – ihr Öl. Es kommt zum Ölembargo gegen den Westen, und eine insgesamt gedrosselte Fördermenge der Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) sorgt für explodierende Preise sowie eine großen Ölkrise. Daraufhin erlässt die Bundesregierung ein „Energiesicherungsgesetz“, das deutliche Sparmaßnahmen anordnet – darunter vier autofreie Sonntage, beginnend am 25. November 1973.
Man darf nur noch im Notfall sonntags mit dem Auto fahren – aber was ist ein solcher Notfall? Die Verunsicherung ist groß, und der „Mannheimer Morgen“ bietet seinen Lesern dazu eine Telefonaktion mit einem ADAC-Experten und Werner Heidt an. Damals ist er junger Polizeiberkommissar, später wird er stellvertretender Leiter der Mannheimer Schutzpolizei und dann Heidelberger Schutzpolizei-Chef.
Auch heute wieder möglich
Immerhin drohen bei einem Verstoß Geldbußen von 500 Mark. Auch ein Tempolimit wird verhängt und streng kontrolliert. Aber es gibt nur wenige Verstöße gegen das Fahrverbot, heißt es nach dem ersten Sonntag. 26 Anzeigen notiert die Polizei, bei 2236 kontrollierten Fahrzeugen, die dann offenbar doch meist eine Ausnahmegenehmigung haben. Weil das aber alles noch nicht genug Benzin spart, wird gleich noch am ersten verkaufsoffenen Sonntag mit weiteren Maßnahmen gedroht. Reklame- und Weihnachtsbeleuchtung „können wir uns nicht leisten“, sagt der damalige Bundesfinanzminister Helmut Schmidt.
Doch so heftig wird es nicht. Die autofreien Sonntage dienen eher als plötzliches Erlebnis. Auf der B 38 werden sogar Pferdeäpfel gesichtet, nicht nur Radfahrer, Fußgänger und Kinder auf Rollschuhen. Dass sich Radfahrer sogar auf die Autobahn wagen, akzeptiert die Polizei aber nicht. „Sie mussten verscheucht werden“, heißt es. In den Planken – erst ab 1975 Fußgängerzone – sieht man nur Straßenbahnen und Pferdekutschen. „Man meint, es gäbe keine Autos“, wird ein Polizeibeamter mit Blick auf die leeren Straßen zitiert.
Am zweiten autofreien Sonntag verdichten die Verkehrsbetriebe die Wagenfolge der Stadtbahnen. Weil es zu einem Kälteeinbruch kommt, müssen viele Handwerker von Ausnahmegenehmigungen Gebrauch machen – wegen eingefrorener Wasserleitungen. „Schwarze Schafe“, die ohne Berechtigung fahren, erwischt die Polizei nur fünf. Und am dritten sowie vierten autofreien Sonntag ist das Fahrverbot schon Routine. Allerdings klagen Wirte von der Weinstraße bis zum Odenwald, dass ihnen das Sonntagsgeschäft fehlt.
Übrigens sind autofreie Sonntage nicht nur Geschichte: Das im Juni 2023 beschlossene Energiesicherungsgesetz lässt sie „bei „Gefährdung und Störung der Energieversorgung“ auch heute wieder zu.
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