Stadtgeschichte

So verlief die Geburtsstunde der Vogelstang

Es ist 60 Jahre her: die Grundsteinlegung der Vogelstang. Was damals zu dem neuen Stadtteil in Mannheim führte, welche Probleme es gab und wo heute der Grundstein liegt

Von 
Peter W. Ragge
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Der Mannheimer Stadtteil Vogelstang wurde vor 60 Jahren gegründet. © Bernhard Zinke

Mannheim. Wo er genau ist? Peter Ratzel hat mal nach ihm geforscht, in den 1990er Jahren. Galt doch der Grundstein der Vogelstang lange als verschollen, und zum Verbleib gab es viele Versionen. Zum 25. Geburtstag des Stadtteils hat der Sohn des „Vaters der Vogelstang“, selbst lange im Gemeinnützigen Bürgerverein des Stadtteils aktiv, dann herausgefunden, er liege im Treppenhaus des Hochhauses Geraer Ring 10.

Aber große Beachtung findet er da nicht. Das Datum, der 10. September 1964, aber hat diese Beachtung verdient. Immerhin ist die Grundsteinlegung für die Vogelstang die Geburtsstunde eines völlig neuen Mannheimer Stadtteils und in dieser Dimension seither unerreicht.

Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger, später Bundeskanzler (1966-69), am 10. September 1964 bei der Grundsteinlegung für die Vogelstang. © Marchivum

Besiedelt ist die Vogelstang, wie der Name des Gewanns lautet, bereits seit Jahrtausenden – ob von Römern oder von Alemannen. Aber diese Dörfer sind alle verschwunden, nur durch archäologische Funde belegt. Allerdings gibt es seit den 1930er Jahren einzelne, frei stehende Siedlungshäuser und eine alte Bettfedernfabrik. Dass sie 1948 Straßenbeleuchtung, 1957 Wasser- und Abwasserrohre und bald einen Briefkasten bekommen, ist für die wenigen Bewohner etwas Besonderes.

Die Stadt Mannheim leidet unter enormer Wohnungsnot

Überwiegend sind hier nur Felder – 25 Hektar auf Käfertaler Gemarkung und 100 Hektar auf altem Wallstadter Grund. Meist werden die Äcker von Käfertaler Bauern bewirtschaftet, oft mit Spargelanbau.

Die Stadt leidet Anfang der 1960er Jahre unter gewaltiger Wohnungsnot. Noch immer leben Menschen in Bunkern oder Behelfsunterkünften. Ludwig Ratzel, seinerzeit Erster Bürgermeister und verantwortlich für Wohnungsbau, sucht nach Flächen für ein, wie das damals heißt, „Großbauvorhaben“ oder eine „Mannheimer Trabantenstadt“, wie es 1961 heißt. Die erste Idee, die Abholzung eines Teils vom Käfertaler Wald, wird verworfen. Dafür soll die Vogelstang bebaut werden – ein neuer Stadtteil südlich der B 38 zwischen Wallstadt und Käfertal mit 5500 Wohnungen für 20 000 Menschen.

Zuvor müssen Grundstücke von über 400 Eigentümern erworben werden – eine Mammutaufgabe. Die Stadt überträgt sie wie die gesamte Entwicklung des neuen Stadtteils der GEWOG, einer Tochter des gewerkschaftseigenen Baukonzerns „Neue Heimat“ mit Sitz in Hamburg.

OB Reschke am Rednerpult, dahinter das große Festzelt und rechts hinten die Kapelle Kühner im dunklen Anzug. © Marchivum

Ratzel, der das Projekt vorantreibt, erarbeitet sich den Ruf als „Vater der Vogelstang“ und wird 1972 Oberbürgermeister. Das Gesicht des jungen Stadtteils dagegen prägen vor allem Einald Sandreuther und Peter Dresel (Architekten „Neue Heimat“) sowie Klaus Unruh und Lothar Götz (Planung zwölfgeschossige Wohnhochhäuser), ferner Helmut Striffler (Einkaufszentrum).

Dabei sind die Vorgaben der Stadt, dass es „weder ein Viertel für Minderbemittelte noch ein solches für reiche Leute“ sein solle, so Ratzel. Daher sollen 16 Prozent der Wohnungen in Hochhäusern, 15 Prozent in Einfamilienhäusern und 68 Prozent im „Mittelhochbau“ entstehen, womit die viergeschossigen, nach ihrem Grundriss so genannten „Y-Häuser“ gemeint sind. Dazwischen gibt es viel Grün. Weil anfangs viele Aussiedler und Flüchtlinge aus der DDR hier zuziehen, werden die Straßen nach Ländern und Städten in Ostdeutschland benannt.

Selbst der Ministerpräsident kommt zur Gründung der Vogelstang

Aber Straßen existieren noch nicht bei der Grundsteinlegung, nur durchwühlte Erde. Zwei gelbe Planierraupen, ein roter Baukran und Fahnenmasten flankieren den Betonblock mit dem Grundstein auf freiem Feld. Bei Mondschein, denn es sei sehr lange gefeiert worden, haben Oberbauleiter Rudolf Röth und Werner Haas den Grundstein heimlich aus dem Betonsockel entnommen, an sicherer Stelle verwahrt und später eingebaut. So schreibt es zumindest Haas in seinen Erinnerungen, der damals Technischer Leiter der „Neuen Heimat“ ist, später einer der Geschäftsführer der Bundesgartenschau 1975 und schließlich Leiter des Hochbauamts wird.

Der damalige Erste Bürgermeister Ludwig Ratzel (l.) und OB Hans Reschke verlesen die Urkunde des Grundsteins. © Marchivum

In der Zinkblechkasette im Grundstein befinden sich eine Flasche Wein, Mannheimer Tageszeitungen, ein Exemplar vom „Spiegel“, Pläne und Münzen sowie eine Urkunde. In ihr heißt es, der Stadtteil solle „eine gute Heimat werden für Menschen, die in ihm wohnen werde, dass er verschont bleibe von der zerstörenden Gewalt des Krieges und erst abgebrochen werde, wenn seine Zeit zu Ende ist und er besseren und schöneren Bauwerken weichen muss“.

Verlegt wird der Grundstein zur Musik der Kapelle Franz Kühner von viel Prominenz und bei einem Fest, wozu das damalige Steigenberger-Hotel „Mannheimer Hof“ ein großes Festzelt bewirtschaftet. Gereicht wird „ein delikater Festschmaus“, so ist es überliefert. Baden-Württembergs Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger (der später Bundeskanzler wird), Innenminister Hans Filbinger (gebürtiger Mannheimer), Landtagspräsident Franz Gurk, Oberbürgermeister Hans Reschke und Ratzel sowie die Führungsspitze der „Neuen Heimat“ sind dabei. Kiesinger wünscht „Friede, Freiheit und frohen mutigen Sinn“. Er äußert sich überzeugt, dass auf der Vogelstang, „Menschen in Licht und Luft wohnen werden, aber nahe genug dem Stadtzentrum, um an seinem Leben teilzunehmen“, so der Ministerpräsident: „Ich bin überzeugt, dass es eine gute Sache werden wird.“

Mehr als 12.000 Menschen leben heute auf der Vogelstang

Immerhin handelt es sich lange um die größte Baustelle Baden-Württembergs, und die Rede ist von einem Investitionsvolumen von 500 Millionen D-Mark. Dabei ist der Zeitdruck groß. Aber trotz anfänglicher technischer Schwierigkeiten, weil die Verfugung der vorgefertigten Beton-Fassadenelemente nicht haftet, klappt der erste Zeitplan. Am 1. Dezember 1965 beziehen die ersten 76 Familien ihre Wohnungen in viergeschossigen Blocks.

1968 lädt die Neue Heimat zum Vogelstang-Richtfest ein, 1969 hat die Großbaustelle ihren Zenit erreicht mit der Einweihung des Einkaufszentrums samt dreier 22-geschossiger Hochhäuser. Dazu gratuliert Bundesratsminister Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes.

Aber er kritisiert etwas, was noch für viele Jahrzehnte gilt: „Die Kneipen an den Wohnecken fehlen noch!“ – und sie fehlen weiter. Lange fehlen zudem andere wichtige Einrichtungen der Infrastruktur, während das Naherholungsgebiet an den Seen gedeiht und auch Besucher aus anderen Vororten anzieht.

Inzwischen wohnen auf der Vogelstang 12.400 Menschen (Stand 2023) – Tendenz fallend. Mit einem Viertel der Einwohner, die über 65 Jahre sind, ist es der Stadtteil mit der ältesten Bevölkerung Mannheims. Dass die „Neue Heimat“ 1986 Pleite geht, in der Folge die früheren Sozialwohnungen an verschiedene Konzerne verkauft und als Eigentumswohnungen aufgeteilt werden, hat die Bewohnerstruktur verändert und den Lebensnerv des jungen Stadtteils sehr getroffen.

Redaktion Chefreporter

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