In dem höchst ungewöhnlichen Prozess um ein abgeschaltetes Sauerstoffgerät in einem Patientenzimmer des Theresienkrankenhauses (TKH) haben am Mittwoch die Plädoyers begonnen. Oberstaatsanwältin Katja König rückt mit Blick auf das Ergebnis der Beweisaufnahme in ihrem Schlussvortrag vom Vorwurf des versuchten Mordes ab und legt der 73-jährigen Angeklagten stattdessen versuchten Totschlag mit ebenfalls gefährlicher Körperverletzung zur Last. Die geforderte Strafe - viereinhalb Jahre Gefängnis - liegt deutlich jenseits der Bewährungsgrenze.
Der Sitzungstag vor der Schwurgerichtskammer beginnt mit einer Zeugenbefragung. Nachdem bereits mehrere Krankenschwestern geschildert haben, wie es aus ihrer Sicht dazu kam, dass Hatun C. das laut brummende Sauerstoffgerät der 79-jährigen Bettnachbarin gleich zwei Mal abgestellt hat, sagt jetzt noch eine weitere Pflegekraft aus. Es geht auch um die zentrale Frage: Was hat die seit 1979 in Deutschland lebende, aber nur Türkisch sprechende Angeklagte verstanden und was nicht. Die Zeugin erzählt, dass sie das Bett herrichten wollte und Hatun C. mit Worten nebst eindeutigen Gesten bat, aufzustehen. Sie habe den Eindruck gehabt, dass die geschwächt wirkende Frau zwar einige Wörter verstand, nicht aber Sätze.
Weil Verteidiger Alexander Klein die Abläufe auf der Covid-Isolierstation am letztjährigen 29. November für noch nicht ausgeleuchtet hält, stellt er mehrere Beweisanträge. Beispielsweise sollen jene TKH-Stationskräfte geladen werden, die bezeugen können, dass die 79-jährige Mitpatientin bei einer späteren Blutentnahme geäußert habe, ihre Bettnachbarin habe bestimmt nicht in böser Absicht das Gerät zur Sauerstoffversorgung abgestellt. Außerdem fordert der Anwalt ein Sachverständigengutachten, das der Frage nachgeht, ob die jeweiligen Pieps-Alarme überhaupt bei geschlossener Zimmertür in der Station zu hören gewesen sind. Die Kammer lehnt die zahlreichen Beweisanträge ab - entweder weil diese als „unerheblich“ für die Wahrheitsfindung eingestuft werden oder darauf abzielen, Aussagen von Zeuginnen „zu erschüttern“, wie der Vorsitzende Richter Gerd Rackwitz erklärt.
Enkelin spricht vor Gericht
Auch an diesem Verhandlungstag zeigt die Frau mit dem bunten Kopftuch und der dicken Strickjacke wenig Emotionen. Wenn sich die 73-Jährige zur Dolmetscherin dreht, lässt sie nicht erkennen, ob sie überhaupt nachzuvollziehen mag, was in dem Gerichtssaal vor sich geht. In der Prozess-Zielgeraden verliest ihr Verteidiger eine „Einlassung zur Sache“. Alexander Klein führt aus, wie seiner gesundheitlich angeschlagenen Mandantin der immer wieder ertönende Gerätealarm zu schaffen gemacht habe - weil sich die im anderen Bett liegende Patientin, ebenfalls mit türkischen Wurzeln, „zig Mal“ die Sauerstoffmaske vom Gesicht zog. Der Anwalt trägt vor, Hatun C. habe „nie einem Menschen Leid angetan“. Außerdem sei ihr nie in den Sinn gekommen, dass die Beatmung für die Zimmergenossin lebensnotwendig sein könnte. Im Namen der 73-Jährigen trägt er eine Entschuldigung für das vor, „das ihr furchtbar leid tut.“
Überraschenderweise erklärt sich danach die Enkelin, eine Wirtschaftsjuristin, bereit, sich zu den Deutschkenntnissen ihrer Großmutter zu äußern. Sie berichtet, dass Hatun C. sogar beim Einkaufen auf Begleitung der Familie angewiesen war. Ein Begriff wie „Sterben“ - der war mehrfach gefallen, als eine TKH-Schwester mahnte, auf keinen Fall das Sauerstoffgerät der anderen Patientin abzuschalten - habe nicht zu dem rudimentären Alltagswortschatz der Oma gehört.
In ihrem Schlussvortrag legt Oberstaatsanwältin Katja König ausführlich dar, was sich - belegt durch die Beweisaufnahme - am 29. November 2022 auf der Covid-Isolierstation und insbesondere im Zimmer 545 zugetragen hat. Auch wenn die stark vorerkrankte Covid-Patientin, die im benachbarten Bett behandelt wurde, nicht ursächlich wegen des erlittenen Sauerstoffmangels aufgrund des abgestellten Versorgungsgerätes zweieinhalb Wochen später gestorben ist, so die Anklägerin, bleibe der Vorwurf , für das eigene Ruhebedürfnis den drohenden Tod der 79-Jährigen in Kauf genommen zu haben.
Kein Urteil vor 4. Oktober
Die verlesene Einlassung, wonach Hatun C. gar nicht verstanden habe, dass für ihre Zimmergenossin das Sauerstoffgerät lebenswichtig war, sieht die Anklägerin als „Schutzbehauptung“. Weil die selbst kranke Hatun C. keine Möglichkeit hatte, der als bedrückend empfundenen Situation auf der Isolierstation zu entgehen, sei es „gerade noch begreiflich und nachvollziehbar“, das im Raum stehende Gerät abzuschalten, um endlich ohne Geräusche schlafen zu können. Die zu einem versuchten Mord gehörenden niedrigen Beweggründe könnten nicht hinreichend belegt werden, führt die Staatsanwältin aus. Dementsprechend müsse juristisch von versuchtem Totschlag mit gefährlicher Körperverletzung ausgegangen werden. Die Nebenklage schließt sich ihren Ausführungen samt Strafrahmen von vier Jahren und sechs Monaten an. Zehn Monate sitzt Hatun C. bereits in Untersuchungshaft.
Am Donnerstag, 9 Uhr, wird der Prozess mit dem Plädoyer der Verteidigung fortgesetzt. Der Vorsitzende Richter kündigt an, dass ein Urteil erst am 4. Oktober zu erwarten ist. In dem „ungewöhnlichen Fall“ wolle sich die Kammer genügend Zeit zur Beratung lassen.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-so-geht-es-im-prozess-um-sauerstoffgeraet-am-mannheimer-theresienkrankenhaus-weiter-_arid,2130235.html