Erinnerungskultur - Bürgerversammlung zur Änderung der Straßennamen in Rheinau-Süd / Anwohner bleiben bei ihrer Ablehnung

Positionen prallen aufeinander

Von 
Konstantin Groß
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Aufregerthema Straßennamen: Volles Haus im Siedlerheim „Seeblick“, sogar im hinteren Nebenzimmer. © Konstantin Groß

Der Schankraum des Siedlerheims „Seeblick“ in Rheinau-Süd ist proppenvoll. Gleiches gilt für den Nebenraum, in den das Geschehen übertragen wird. Nicht nur deshalb beschleicht einen – trotz Voranmeldung, 3G und Luca-App – ein seltsames Gefühl. Es liegt Spannung in der Luft. Die Stadt hat zu einer Bürgerversammlung eingeladen, um mit den Anwohnern die Änderung von vier historisch stark belasteten Straßennamen zu diskutieren.

„Wir wollen zuhören“, sagt der zuständige Bürgermeister Ralf Eisenhauer: „Versteht man unser Anliegen? Teilt man es sogar? Will man an der Veränderung mitwirken?“ Aber er lässt auch keinen Zweifel daran: Geht es nach der Verwaltung, soll es eine Umbenennung geben.

Eindeutiges Votum der Historiker

Warum, das machen die Verfasser des historischen Gutachtens der Uni Mainz unmissverständlich deutlich. Leutwein, Lüderitz, Nachtigal – das sind Repräsentanten eines „Herrschaftssystems, das auf Rassismus, Ungleichheit und Ausbeutung basiert“, betont Joachim Paulmann. Und ihre Mittel waren Gewaltherrschaft und Landraub: „Das waren keine Forschungsreisenden“, korrigiert der Professor die Legenden. „Sie waren Symbolfiguren des Kolonialismus“, sagt sein Kollege Bernhard Gißibl, daher auch von den Nazis bewusst als Namenspaten genutzt. „Es gibt also eine doppelte Kontaminierung“, formuliert Marchivum-Direktor Ulrich Nieß.

Die Anwesenden beeindruckt das wenig. „Wir sind dafür, die Namen nicht zu ändern“, sagt Hans Held, Chef der Siedlergemeinschaft vor Ort, er erhält stürmischen Beifall, sogar „Bravo!“-Rufe ertönen: „Wir wollen diese Namen behalten“, legt er nach. Statt einer Umbenennung schlägt er erläuternde Schilder vor.

„Wir sollten Straßennamen wählen, von denen jeder sagen kann: Ich bin stolz, hier zu leben“, meint dagegen Hildegard Klenk. „Sind wir!“, schallt es der Vertreterin des Arbeitskreises Kolonialgeschichte Mannheim entgegen. Auch „Buh!“-Rufe kommen auf, so dass Moderatorin Rosa Omenaca Prado darauf hinweisen muss: „Wir sind hier nicht auf dem Fußballplatz.“

Problematische Namenspaten in Rheinau-Süd

  • Theodor Leutwein: Von 1895 bis 1905 Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika, leitet er zahlreiche gewaltsame Aktionen gegen die heimische Bevölkerung und wirkt als „herausragender Repräsentant des kolonialen Unrechtssystems“, so das Gutachten.
  • Adolf Lüderitz: Mit betrügerischen Mitteln jagt der Kaufmann (1834-86) Einheimischen ihr Land ab, was als „Meilenschwindel“ in die Geschichte eingeht. Das Unrechtführt zu Aufständen, die mit dem Völkermord an den Hereros (80 000 Tote) enden.
  • Gustav Nachtigal: Als Reichskommissarfür Deutsch-Westafrika (1884) ringt er Einheimischen durch die Drohung mit Gewalt bis hin zur Geiselnahme die Abtretung ihres Landes ab.
  • Sven Hedin: Der Schwede (1865-1952) propagiert die „germanische Rasse“, unterstützt die NS-Politik gegen Juden, spricht von „jüdischer Weltverschwörung.“ Einen Tag nach Hitlers Tod 1945 würdigt er ihn „als einen der größten Menschen, den die Weltgeschichte besessen hat. Aber sein Werk wird weiterleben“. tin

Auch Opfer vergessen?

Gleichwohl, polemische Redebeiträge bleiben die Ausnahme. „Wir werden vergewaltigt von Gutmenschen“, kritisiert Günther Ries. Gelassen weist Eisenhauer diese Wortwahl zurück: „Dass Sie mir das sagen können, zeigt doch, dass wir heutzutage glücklicherweise ein anderes System haben als zu jener Zeit, in der diese Straße ihre Namen erhielten.“

Ein Argumentationsmuster gegen die Umbenennung kehrt immer wieder: „Durch die Umbenennung wird kein Herero wieder lebendig“, meint Sascha Sigl. „Wer die Täter tilgt, vergisst damit auch die Opfer“, ergänzt ein anderer Redner. Da hält es Ulrich Nieß kaum auf dem Stuhl: „Wir brauchen doch auch keine Straßennamen, die NS-Täter ehren, um an NS-Opfer zu erinnern.“

„Ich wohne in der Nachtigalstraße in der vierten Generation“, berichtet Hildegard Trinkaus. „Aber Ihre Identität hängt doch nicht an vier Straßennamen“, entgegnet ihr der Historiker Paulmann – „doch!“ schallt es ihm entgegen. „Wenn Sie diese Umbenennungen ablehnen, dann ehren Sie diese Männer ein zweites Mal“, mahnt sein Kollege Gißibl und erntet dafür „Buh!“-Rufe.

Doch einige denken längst weiter. Wer trägt die Kosten der Umbenennung? Für Gewerbetreibende ist dies besonders wichtig. Rolf Ries von Ries Electronics legt eine detaillierte Aufstellung über 7380 Euro vor – bis zu den neuen Aufschriften auf seinen Fahrzeugen und den Jacken seiner Monteure. „Über die Gebührenfreiheit hinaus kann nichts erstattet werden“, sagt Holm Neumann vom Vermessungsamt. „Der Gemeinderat ist jedoch frei, darüber hinaus finanzielle Hilfen zu beschließen“, zeigt Eisenhauer eine Lösung auf.

Suche nach neuen Namen

Für viele Bürger vor allem wichtig: die Frage, wie die Straßen künftig heißen. Ein Redner schlägt vor, den angrenzenden Taufbezirk (Brühler Ring, Ketscher Ring) fortzuführen und etwa die Leutweinstraße in Hirschackerstraße umzubenennen.

Matthias Zepf warnt vor einer erneuten Benennung nach Personen: „Wir laufen Gefahr, Menschen nach unserem aktuellen Werteverständnis auszuwählen, das in 20, 30 Jahren vielleicht schon wieder überholt ist.“ Stattdessen schlägt er Tiere, Pflanzen und Seen vor. „Die Namen müssen aussprechbar sein“, fordert Roseluise Koester-Buhl, für die Grünen im Bezirksbeirat. Da kann Ralf Eisenhauer nur schmunzeln: „Als Neckarstädter sage ich Ihnen: Ich habe lange nicht gewusst, wie man die Clignetstraße richtig ausspricht.“

Doch so weit ist man noch gar nicht. Erst muss entschieden werden, ob es überhaupt zu einer Umbenennung kommt. „Wenn der Gemeinderat Nein sagt, ist der Prozess zu Ende“, erläutert Nieß. Bei einem Ja beginnt die Suche nach neuen Namen, bei der auch die Anwohner befragt werden sollen, etwa in Form einer Abstimmung – was übrigens in Deutschland nicht selbstverständlich ist, wie Experte Paulmann weiß: „Das ist eine große Chance für Sie.“

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