Mannheim. Oradour-sur-Glane. Ein Ort unendlich großen Leids und eine Skulptur, die für schmerzvolle Erinnerungen, aber auch für das Ringen um Zukunft steht: Am Jahrestag eines der grauenvollsten NS-Verbrechen auf französischem Boden ist in Oradour-sur-Glane die vierte und bislang letzte Skulptur der Reihe Paperbomb feierlich enthüllt worden. Die deutsch-italienische Künstlerin Nessi Nezilla hat das Werk geschaffen. Gestiftet haben es die Familie des in Mannheim ansässigen französischen Honorarkonsuls Folker Zöller und der Salon Diplomatique. Die Zeremonie samt bewegenden Begegnungen mit Überlebenden und ihren Angehörigen war Teil der offiziellen Gedenkveranstaltung zum 81. Jahrestag des Massakers von Oradour-sur-Glane – in unmittelbarer Nähe des zerstörten Dorfs und seiner Ruinen, die seit dem 10. Juni 1944 als Mahnmal bewahrt werden.
An jenem Tag ermordeten SS-Männer in Oradour-sur-Glane in wenigen Stunden 643 Menschen. Die Männer wurden erschossen, die Frauen und Kinder in der Kirche eingesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt. Anders als an vielen anderen Orten wurde das Dorf nach Kriegsende nicht wiederaufgebaut, sondern bewusst in dem zerstörten Zustand belassen. Charles de Gaulle entschied, dass Oradour als „Village Martyr“ erhalten bleiben solle, als offenes Mahnmal, das künftigen Generationen den Schrecken des Krieges sichtbar vor Augen führt.
„Jahrzehntelang war es kaum vorstellbar, dass Deutsche hier mehr tun als schweigen“
„Dass auf diesem Boden nun eine deutsche Künstlerin Teil dieses Erinnerungsortes ist und ich hier sprechen darf, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit“, betonte Zöller, der in Vertretung von Salon-Präsident Helmut Augustin sprach. Heute sei das zerstörte Oradour ein internationaler Erinnerungsort, ein Ort der Geschichte, aber auch der schwierigen Versöhnung. In diesen Kontext fügt sich nun ein neues Element: die Skulptur Paperbomb, vor den Ruinen platziert, nicht als Kontrast, sondern als zeitgenössischer Kommentar zur Vergangenheit, als Einladung zum Nachdenken über Gegenwart und Zukunft.
„Es ist weit mehr als ein kulturelles Ereignis. Es ist ein Zeichen. Jahrzehntelang war es kaum vorstellbar, dass Deutsche hier mehr tun als schweigen.“ Erst seit einigen Jahren finden offizielle Begegnungen statt. 2013 sprach Joachim Gauck erstmals in Oradour, letztes Jahr Frank-Walter Steinmeier. Der hatte die Miniatur der Paperbomb Präsident Macron überreicht, sie steht heute im Élysée-Palast: „Jetzt geht die Erinnerung einen Schritt weiter. Ein deutsches Kunstwerk wird Teil des Gedenkens“, so Zöller.
„Die Paperbomb will nicht dominieren, nicht verdrängen, nicht vergessen machen“, so Nessi Nezilla, die ihre Worte über die Kraft von Kunst und den Dank für die Gastfreundschaft, die sie in Oradour erfahren habe, auf Französisch an die Gäste richtete: „Die Skulptur will erinnern, sichtbar machen, im Jetzt verankern.“ Die Nähe zur Ruinenlandschaft sei bewusst gewählt, „als Dialog zwischen dem stummen Zeugnis der Vergangenheit und einer neuen Form der Erinnerung, die Zukunft ermöglichen will“.
Teil eines ganztägigen Gedenkprogramms
Zöller erinnerte in seiner Rede an seinen Vater Klaus, der in den 1960er-Jahren mit dem Fahrrad nach Oradour reiste, als junger Mann, als Geste der Stille, aber auch von den Ressentiments, die ihm als jungem Deutschen entgegenschlugen: „Verständlich, spürbar, schmerzhaft. Und doch hat ihn diese Erfahrung nicht abgestoßen, sondern im Gegenteil: tief geprägt.“ Seither setze sich sein Vater mit großer Überzeugung für die deutsch-französische Freundschaft ein: „Und hat mir als Sohn vieles davon mitgegeben, was mich nun hierhergeführt hat“, so Zöller: „Heute steht man nicht mehr in Stille, sondern in Verantwortung.“ Die Paperbomb sei kein Versöhnungssymbol im klassischen Sinne, sondern ein „Denkzeichen zwischen Schmerz und Hoffnung“. Zöller blickt zurück auf die Ursprünge der Paperbomb-Reihe, an die Begegnung mit dem Comité des Martyrs de Tulle, an die Stationen des Kunstwerks: Tulle, Hartmannswillerkopf, Mannheim. „Und als finaler Ort hier in Frankreich: Oradour-sur-Glane.“
Ein Prozessionszug, der unter anderem den ermordeten Schülern gedachte, Festansprachen, Dialoge, Musik und die Niederlegung von rund 70 Kränzen: Die Enthüllung der Paperbomb war Teil eines ganztägigen Gedenkprogramms, das an verschiedenen Orten in Oradour-sur-Glane Station machte. „Die Skulptur findet dabei ihren Platz nicht nur physisch, sondern auch symbolisch im Herzen dieser Veranstaltung“, so Zöller. „Die Paperbomb steht nun vor den Ruinen von Oradour. Nicht als Dekoration. Nicht als touristisches Objekt. Sondern als bewusste Setzung: Ein Mahnmal für die Gegenwart entstanden aus der Vergangenheit. Ein Kunstwerk, das die Stille des Orts nicht stört, sondern sie aufnimmt – in neuer Sprache, mit neuer Form, aber im gleichen Geist.“ Und vielleicht sei das ihre größte Kraft: Dass sie nicht nur zurückblickt, sondern einlädt, nach vorne zu denken. Denn, wie Zöller sagt: „Erinnerung ist nicht Rückblick, sie ist Verantwortung. Sie darf nicht lähmen, sondern muss ermutigen. Sie ist kein Schlussstrich, sondern ein Anfang.“
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