Mannheim. Hodenkrebs. Viele Männer fürchten sich vor der Diagnose. Natürlich - jeder Krebs löst Angst aus. Aber dann auch noch an einer derart intimen Stelle, über die Mann sowieso ungern spricht, schon gar nicht im Zusammenhang mit Problemen?
Nachdem zuletzt bei vier Profis der Fußball-Bundesliga - Marco Richter, Sébastien Haller, Timo Baumgartl und Jean-Paul Boëtius - innerhalb weniger Wochen Hodenkrebs diagnostiziert worden ist, hat die Krankheit einen ungewohnt großen Teil der Berichterstattung eingenommen. „Über soziale Medien kommt jeder Fall, gerade bei Fußballprofis, schnell an die Öffentlichkeit, wodurch auch ein Gefühl der Unsicherheit erzeugt werden kann“, erklärt Ali Barhoum, der als Urologe auf Franklin praktiziert.
Besonders jüngere Männer sind betroffen
Merken Barhoum und andere Urologen in Mannheim, dass sich nun mehr junge Männer informieren - oder sich sogar die Hoden abtasten lassen?
„Das Risiko, an Hodenkrebs zu erkranken, ist zwischen 20 und 40 am höchsten“, ordnet Maurice Stephan Michel ein. Der Mediziner leitet die Urologie und Urochirurgie am Universitätsklinikum. „Das besondere ist, dass jüngere Männer betroffen sind, während andere Tumore häufig erst im Alter auftreten.“ Michel vermutet darin einen Grund, weshalb die Diagnose im Sommer bei gleich vier Profis gestellt worden ist. „In der Bundesliga gibt es eine Häufung von Männern in genau diesem anfälligen Alter.“
Peter Hinz führt eine Praxis in den Quadraten. Über Gründe, weshalb es eine Häufung an Tumoren in der Bundesliga gegeben hat, könne er nur spekulieren. „Wir wissen nicht, was beim Routine-Check-up passiert“, sagt Hinz. „Für mich spricht vieles dafür, dass die vier Männer an Ärzte geraten sind, die den Mut hatten, bei der Untersuchung die Unterhose runterzuziehen.“
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Auch laut Barhoum seien Leistungssportler für Hodenkrebs nicht besonders anfällig. „Es gibt dafür keine wissenschaftliche Grundlage“, erklärt er. „Die Häufung in der Bundesliga ist Zufall und hat nichts damit zu tun, dass Leistungssport betrieben wird.“ Profis seien generell besser überwacht, meint Hinz. „Je häufiger untersucht wird, desto höher ist die Quote, etwas früh zu finden.“ Eine frühe Diagnose könnte auch die Therapie minimieren.
„Fußballspieler müssen sich keine Sorgen machen, dass sie zum Beispiel wegen fußballtypischen Verletzungen oder Traumata im Unterleib besonders gefährdet sind“, sagt auch Michel. Es habe in den vergangenen zehn Jahren generell einen „leichten, aber keinen dramatischen Anstieg“ von Hodentumoren gegeben. Wissenschaftlich als mögliche Ursache werde diskutiert, dass Hoden bei der Entwicklung im Mutterleib unter Umständen etwas mehr Östrogen ausgesetzt sein könnten als noch vor einigen Jahrzehnten. Das weibliche Geschlechtshormon ist „in kleinsten Spuren“ im Trinkwasser, etwa über Medikamentenabbaureste, nachweisbar, erklärt Michel. „Diese kleinsten Spuren in der Umwelt sind in den letzten Jahren etwas gestiegen.“ Demnach seien weitere wissenschaftliche Untersuchungen erforderlich, um die diskutierten möglichen Zusammenhänge zu klären.
Deutschlandweit diagnostizieren Urologinnen und Urologen Hodenkrebs jährlich etwa 4000 Mal. Auf das Jahr hochgerechnet erkrankten so neun von 100 000 Männern - eine vergleichsweise seltenere Tumor-Diagnose, sagt Michel. Darauf verweist auch Barhoum. Er entdecke jährlich etwa vier Tumore an Hoden. „Wir haben dagegen im Monat etwa 20 Männer mit Prostatakrebs“, sagt er. „Es sterben im Jahr mehr Männer an Prostatakrebs als Hodentumore überhaupt diagnostiziert werden.“
Immer mehr Frauen gehen in die Urologie
- Die Zahl der Frauen, die sich in ihrem Studium auf den Bereich Urologie spezialisieren, nimmt zu. Laut Michael Rug, Vorsitzender Baden des Berufsverbandes der Deutschen Urologen, liegt der Anteil der Medizinstudentinnen mittlerweile bei fast 70 Prozent. „Dadurch streben auch immer mehr Frauen die Facharztweiterbildung Urologie an.“
- Auch Maurice Stephan Michel, Leiter der Urologie und Urochirurgie am Universitätsklinikum, bestätigt den Trend. „Die Urologie ist ziemlich einzigartig, weil sie in voller Breite Diagnostik, medikamentöse Therapie und urologische Chirurgie in einem Fach verbindet.“ Weil die Disziplin zudem durch die immer älter werdende Bevölkerungsstruktur mehr und mehr an Bedeutung gewinne, würden auch immer mehr Medizinstudentinnen das Fach für sich entdecken.
- Ist es für Männer ein Problem, von einer Frau untersucht zu werden anstatt von einem Mann? „Ich habe noch nicht erlebt, dass Männer sagen: ,Ich möchte nicht von einer Ärztin untersucht werden’“, erklärt Michel, der am Klinikum mit „einer Reihe von Ärztinnen“ in der Urologie zusammenarbeitet.
- Diese Einschätzung teilt auch Rug. Der Landesvorsitzende bewerte es „positiv“, dass mehr Frauen Urologin werden. „Die Zukunft unseres Fachs und die adäquate urologische Versorgung der Bevölkerung lässt sich nur dadurch sichern“, erläutert er. Das Geschlecht des Behandelnden spiele für die Patienten dabei „keine große Rolle“, ist Rug überzeugt. Zwar gebe es „sicher Patientinnen oder Patienten, die sich bei urologischen Erkrankungen lieber einem gleichgeschlechtlichen Gegenüber anvertrauen wollen“, schränkt er ein. „Man muss aber wissen, dass ein Drittel der Patientinnen und Patienten in urologischen Praxen Frauen sind.“ Laut Verzeichnis der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg gibt es in Mannheim derzeit eine niedergelassene Urologin.
Diese Relation versuche er häufig zu vermitteln. Es habe seit Bekanntwerden der Bundesligafälle „definitiv deutlich zugenommen“, dass Männer zwischen 25 und 40 Jahren ihn bitten, ihre Hoden abzutasten. „Im Moment haben wir drei bis fünf junge Männer am Tag.“ Hodentumore habe er seitdem noch keine diagnostiziert. Unter den Männern, die ihre Hoden haben abtasten wollen, sei ein 80-Jähriger gewesen. „Obwohl er nicht zur Risikogruppe gehört, wollte er seine Hoden abtasten lassen, aber paradoxerweise keine Prostatauntersuchung, obwohl das viel wahrscheinlicher wäre.“
Indes beobachtet Hinz immer wieder Phasen, in denen sich junge Männer häufiger untersuchen lassen. Er habe bislang nur einen Mann gehabt, der seine Praxis ausdrücklich wegen der Fälle in der Bundesliga aufgesucht habe. „Die Nachfrage entsteht immer mal wieder, wenn das Thema in der Öffentlichkeit diskutiert wird“, sagt Hinz. „Ganz konkret nehme ich Männer in der Praxis vor allem dann wahr, wenn in ihrem näheren Umfeld ein Fall aufgetreten ist, der sie dazu veranlasst, selbst mal nachschauen zu lassen.“
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"Hodenkrebs-Untersuchung tut nicht weh"
Während Michel darauf verweist, dass eine Klinik häufig erst aufgesucht werde, wenn niedergelassene Urologinnen und Urologen eine Diagnose gestellt haben, beobachtet Michael Rug, Vorsitzender Baden des Berufsverbandes der Deutschen Urologen: „Durch die Thematisierung von Hodenkrebs in der Öffentlichkeit recherchieren viele junge Männer zu der Erkrankung und wenn sie Auffälligkeiten entdecken, landen sie in unseren Praxen.“ Rug erläutert: „Die Chancen, die Krankheit langfristig zu überleben oder vollständig geheilt zu werden, stehen bei Hodenkrebs besonders gut.“ Fünf Jahre nach der Diagnose überlebten etwa 96 Prozent der Patienten. „Auch nach zehn Jahren ist der Anteil mit 95 Prozent nur geringfügig niedriger.“ Klassische Risikofaktoren, wie etwa Rauchen oder Ernährung, gelten für Hodenkrebs nicht, erklären Barhoum und Hinz. Neben einer erblichen Veranlagung seien aber Männer gefährdet, die als Kind einen Hodenhochstand hatten.
Recherchiert man, wie Mann Hodenkrebs nachweisen kann, ohne einen Arzt aufsuchen zu müssen, stößt man darauf, dass ein positiver Schwangerschaftstest ein Hinweis sei. Barhoum und Hinz ist das bekannt - sie raten davon ab. Zwar sei das Hormon BetaHCG, auf das Tests anschlagen, ein Tumormarker, erklärt Hinz. Es gebe aber Tumor-Arten, bei denen das Hormon keine Rolle spielt. „Sich auf einen Schwangerschaftstest zu verlassen, weil man nicht zum Urologen will, ist Quatsch“, sagt er. „Wenn der Tumor markernegativ ist, hat man ein Problem, weil der Test dann nicht anschlägt.“ Barhoum rät: „Bevor man sich Gedanken darüber macht, ob ein Schwangerschaftstest positiv ist, sollte man zum Urologen gehen und eine richtige Diagnostik machen.“ Michel erklärt: „Eine Untersuchung ist einfach, besteht aus Abtasten und Ultraschall, und tut nicht weh.“ Er hofft, dass „junge Männer die Scheu ablegen, bei Auffälligkeiten zum Urologen zu gehen“.
Auch Svindal erkrankt
- Nach vier Bundesliga-Fußballern hat mit dem ehemaligen norwegischen Ski-Star Aksel Lund Svindal ein weiterer Sportler seine Hodenkrebs-Erkrankung Ende September öffentlich gemacht. Er habe eine Veränderung gespürt, sei sich aber nicht sicher gewesen, ob es etwas sei, schrieb er auf Instagram.
- „Ich suchte einen Arzt auf und wurde schnell ins Krankenhaus gebracht, wo der Verdacht bestätigt wurde. Hodenkrebs“, erklärte der Alpin-Olympiasieger von 2010 und 2018. Tests, Scans und Operation seien sehr schnell gegangen. „Nach der ersten Woche wusste ich, dass die Prognosen sehr gut aussahen“, schrieb der 39 Jahre alte Svindal. Das alles habe er der ersten Entscheidung zu verdanken, gleich nach seinem Verdacht zum Arzt zu gehen. (dpa)
Die Mediziner empfehlen jungen Männern alle, ihre Hoden regelmäßig selbst abzutasten. Dabei solle auf Veränderungen geachtet werden. „Ein gesunder Hoden hat die Elastizität wie die Oberseite des Oberschenkels. Mit dem Finger kann man den Oberschenkel zur Kniescheibe fahren. Die ist hart wie ein ungesunder Hoden sein kann“, vergleicht Barhoum. „Wenn Sie eine derartige Auffälligkeit tasten, sollten Sie fachärztlichen Rat einholen.“ Michel sagt: „Ein junger Mann sollte nicht gleich an Krebs denken, wenn er Veränderungen feststellt.“ Auch könnten „harmlose Zysten“ oder Flüssigkeitsansammlungen, die „nichts Schlimmes sind“, Hoden verhärten.
Auch andere Krankheiten können erkannt werden
Eine Vorsorge auf Hodenkrebs, ähnlich der für die Prostata, gibt es nicht. „Wenn man Veränderungen oder Schmerzen am Hoden spürt, muss ich behandeln“, erklärt Hinz. In diesem Fall übernimmt die Krankenkasse die Kosten. Ohne Symptome ist das nicht der Fall. „Man sollte politisch darüber diskutieren, ob man eine Vorsorge für junge Männer etabliert“, sagt Hinz und weist darauf hin, dass bei Frauen die Vorsorge ab dem 20. Lebensjahr möglich ist - bei Männern dagegen erst ab 45.
Der GKV-Spitzenverband ist die zentrale Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. „Gegen eine Ausweitung der Hodenkrebs-Früherkennung auf Männer unter 45 Jahre spricht die derzeitige Studienlage“, erklärt ein Sprecher auf Anfrage. Er verweist auf eine Untersuchung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, laut der es keine Hinweise darauf gebe, „dass eine Früherkennung bei jüngeren Männern mehr Nutzen als Schaden bringt“, sagt er. „Schaden kann in diesem Zusammenhang durch unnötige Untersuchungen und invasive Maßnahmen erfolgen.“
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Hinz entgegnet: „Eine Früherkennung wird uns langfristig mehr Geld sparen als kosten, weil gesundheitsbewusste junge Männer herangezogen werden, die später in eine normale Vorsorge übergehen.“ Über Urinproben und die Anamnese könnten auch andere Erkrankungen, etwa Diabetes, früher erkannt werden. „Der gesundheitliche Benefit für die Gesellschaft wäre deutlich höher als der Aufwand und die finanzielle Belastung.“
Haller ist bei Borussia Dortmund wieder im Training, Baumgartl läuft für Union Berlin schon auf. Richter und Boëtius stehen bei Hertha BSC unter Vertrag - und spielen beide wieder. Richter hat sogar schon getroffen. Zuletzt hatte Hertha laut Deutscher Presse-Agentur angekündigt, Neuzugängen künftig eine Untersuchung der Hoden zu empfehlen. „Hertha wird diese Untersuchung ab der nächsten Transferperiode aktiv anbieten“, sagte Geschäftsführer Fredi Bobic. Verpflichtend sei sie aber nicht.
Mehr Informationen zum Thema: hodencheck.de
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