Interview

Mannheims EU-Wahl-Kandidaten an einem Tisch: „Bräuchten echt mal ein Update der Demokratie“

Heiß her ging's beim zweiten Talk der Mannheimer Europawahlkandidaten: Hier trafen Klimaaktivist und Letzte Generation-Kandidat Raúl Semmler, Vincent Oehme (FDP) und Annalena Wirth (SPD) aufeinander

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Lea Seethaler und Steffen Mack
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Die Kandidaten für die Europawahl im Gespräch mit der „MM“-Redaktion: „MM“-Reporterin Lea Seethaler (v.l.), Raúl Semmler, Vincent Oehme , Annalena Wirth und „MM“-Reporter Steffen Mack. © Bernhard Zinke

Mannheim. Frau Wirth und Herr Oehme, Ihre Chancen, ins EU-Parlament gewählt zu werden, sind eher gering.Aber Herr Semmler, über Ihren Listenplatz 4 für die „Letzte Generation“ könnte es klappen. Nehmen Sie die Wahl dann an?

Semmler: Wenn ich gewählt werde, dann gehe ich da auch rein. Ich finde, das ist eine tolle Bühne, um dort hinzugehen. Ob man die Bühne dann so bespielt, wie die Schauspieler, die da jetzt sitzen, oder ob wir sie so bespielen, dass wir sagen, okay, wir bringen da wirklich mal Ehrlichkeit rein und machen nicht nur leeres Gelaber, lassen uns von Unternehmen die Gesetze schreiben und nicken sie dann ab.

Würden Sie die „Bühne“ dann konventionell bespielen?

Semmler: Nein, auf keinen Fall. Ich weiß nicht, wie viele 30,40 verschiedene Arten von Protesten wir schon gemacht haben – da werden wir uns auf jeden Fall auch fürs EU-Parlament, wenn wir erstmal den Schlüssel haben, Verschiedenes einfallen lassen. Ich bin dann weiterhin Protestler.

Oehme: Waren Sie schon mal im EU-Parlament und haben da einmal den Ablauf mitbekommen, wenn Sie ja andeuten, dass das in diesem Sinne Schauspieler sind und dass Sie dann die Person sein wollen, die die Ehrlichkeit bringt?

Semmler: Ich war noch nicht im EU- Parlament, nein.

Oehme: Bin gespannt.

Wirth: Widerspricht sich das nicht, ins Parlament zu wollen, weil im Gegensatz zu Fridays for Future, die ja schon am Austausch und an der Mitwirkung von Politik interessiert waren und ja auch in Austausch mit Parteien gegangen sind, hat die letzte Generation ja genau andere Wege versucht und will jetzt aber ins Parlament.

Semmler: Das sagen Sie so! Also wir haben schon von Anbeginn immer Verhandlungsbereitschaft gezeigt. Vor unseren ersten Protesten sind wir auf Scholz zugegangen, haben einen Brief geschrieben und haben das auch immer wieder bei neuen Phasen gemacht. Wir haben auch im Hintergrund immer wieder Verhandlungen gehabt.

Die Biografien

  • Annalena Wirth, 22 Jahre, ist in Mannheim geboren. Sie ist Europakandidatin der SPD-Bundesliste (Rang 57) und Kommunalwahlkandidatin auf Platz 4 der SPD Mannheim und auch Sprecherin im Bezirksbeirat Lindenhof. Wirth ist Jurastudentin und selbstständige Kommunikationsberaterin.
  • Klimaschutzaktivist Raúl Semmler, 39 Jahre, ist in Jena geboren. Der Diplom-Drehbuchautor und Schauspieler war bei zahlreichen Straßenblockaden der Letzten Generation dabei. Für die „Letzte Generation – Parlament aufmischen“ kandidiert er für das Europaparlament (Rang 4).
  • Vincent Oehme, 20 Jahre, kommt aus Eilenburg bei Leipzig. Der Mannheimer studiert Politikwissenschaften und schreibt aktuell seine Bachelorarbeit. Er ist Europakandidat (Platz 94) der FDP. Aktiv ist er auch im Int. Komitee der Jungen Liberalen. see

Frau Wirth und Herr Oehme, glauben Sie, es würde das EU-Parlament bereichern, wenn die Letzte Generation dort einzieht?

Wirth: Eher nicht. Ich glaube, dass jede demokratisch gewählte und verfassungskonforme Partei einen Mehrwert für das Parlament darstellt. Herr Semmler, ich verstehe Ihre Ziele, aber sich dann den parlamentarischen Arbeiten zu entziehen, aber von dort Bezüge zu erhalten, widerspricht sich total. Da hätte man auch sagen können, man bleibt raus aus dem EU-Parlament und bleibt eben beim Aktivismus.

Semmler: Um dann den Parteien wie SPD und FDP den Weg zu geben, dass wir weiter Menschen wie Olaf Scholz haben in politischen Positionen? Wir haben mit ihm einen Klimakatastrophenkanzler und die FDP, die die ganze Zeit nur Dinge blockiert auf EU-Ebene.

Oehme: Jetzt kommt wieder das Nummer-1-Vorurteil, dass wir immer hören: dass wir alles blockieren. Es gibt einen feinen Unterschied dazwischen, ob man was blockiert oder etwas verbessern möchte. Sie meinen bestimmt das Lieferkettengesetz. Gesetze müssen in 27 Mitgliedstaaten funktionieren, das ist wie auf einer Geburtstagsfeier für 27 Leute zu kochen. Der eine ist vegan, der eine ist Vegetarier, der andere laktoseintolerant. Schwierig. Vor Änderungen der sogenannten Blockade, die benannt wurde, war das Gesetz noch viel zu überbürokratisch für Unternehmen, und wir haben es effizient und unbürokratischer gemacht.

Semmler: Sie blockieren, dass wir wirklich Klimaschutz machen können. Effizienz und Bürokratie, die können sie dabei leider vergessen. Außerdem blockieren Sie auch auf anderen Ebenen – Stichwort Volker Wissing oder E-Fuels etc.

Oehme: Gesetzgebung ist ein langwieriger Prozess in der Demokratie, und genau deswegen sind wir nämlich eine Demokratie. Es gibt Mitgliedstaaten, die verschiedene Interessen haben, das muss abgestimmt werden, das dauert, und Deutschland hat ein Schwergewicht. Wenn wir über Wissing reden, dann sind wir bei Bundes- und nicht Europapolitik.

Semmler: Wie dem auch sei: Das politische Schwergewicht Deutschland hat im EU-Parlament auch das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 mitunterschrieben, und wir sind jetzt schon bei einer 1,4 bis 1,5 Grad-Erwärmung. Also insofern sorry, das beißt sich für mich total. Ich finde, hier bräuchten wir dann einfach mal ein Update der Demokratie, zum Beispiel durch einen Gesellschaftsrat.

Oehme: Wir brauchen zum Beispiel das Initiativrecht im EU-Parlament. Das wäre wichtig.

Semmler: Ich weiß nicht, was das Initiativrecht ist.

Oehme: Das ist schwierig, wenn Sie ins EU-Parlament wollen.

Semmler: Schon super interessant, weil Sie ein paar Interviews geführt haben, im EU-Parlament oder hier und da und dort mal waren, wollen Sie mir absprechen, dass ich ins EU-Parlament gehöre?

Oehme: Nein, das meinte ich nicht. Wenn sie ins EU-Parlament gehen, dann würde ich hoffen, dass Sie das auch unterstützen, das Initiativrecht, weil dadurch das EU-Parlament Initiativen einbringen kann, und nicht nur die Kommission, also sozusagen das Parlament demokratischer wird.

Wirth: Und ich glaube nicht, dass ein Gesellschaftsrat für mehr Demokratie sorgt. Es wurde ja gerade schon angesprochen. Wir haben jetzt schon 27 Interessen, die wir zusammenbringen müssen, 27 verschiedene Regierungen, die aus noch mal verschiedenen Interessen bestehen, und 27 Länder, die einfach total verschiedene Ausgangssituationen haben. Ich glaube, das Problem ist nur, dass Bürgerinnen und Bürger Möglichkeiten haben, sich einzubringen, aber die einfach nicht genug beworben werden. Das wäre ein Punkt, den müsste man in der nächsten Legislatur angehen.

Semmler: Was soll das bewirken am Ende? Ich meine, trotzdem haben wir es dann wieder nur, dass Juristen und Juristinnen Gesetze verhandeln, aber am Ende etwa der einfache Bäcker auf der Strecke bleibt und womöglich in die Hände von Populisten gerät.

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Oehme: Was könnte man denn besser machen für den einfachen Bäcker, was würde die Letzte Generation für ihn machen?

Semmler: Wir könnten zum Beispiel mal aufhören, in fossile Unternehmen, also Gas, Kohle und Öl, massivste Subventionen zu stecken. 750 Millionen Dollar investieren diese Unternehmen jedes Jahr weltweit in Werbung, um ihr Geschäftsmodell grün zu waschen.

Oehme: Da sind wir doch schon Schritte gegangen. Zum Beispiel jetzt in Deutschland, auch hier in Mannheim, da haben wir das GKM, bei dem ein Block wieder abgebaut und dann sozusagen stillgelegt wird.

Semmler: Ich sage Ihnen jetzt mal was: Wir rasen gerade, nein – wir befinden uns schon richtig drin in der Klimakatastrophe – und wir rasen weiter auf den Abgrund zu, und Sie sagen mir jetzt: „Na ja, okay, dann rasen wir nicht weiter mit 200 km/h, sondern wir rasen nur mit 100 km/h auf die Klippe zu.“ Das sehe ich die ganze Zeit bei der FDP, dieses „weiter ja, aber Freiheit”. Wissen Sie, was Freiheit bedeutet? Dass mein Neffe, der 16 Jahre ist, wenn er so alt ist wie ich, noch Korallenriffe erlebt.

Oehme: Wie genau wollen Sie das Problem lösen? Natürlich, die Verschärfung des Pariser Klimaabkommens ist wichtig. Wir müssen es schneller umsetzen. Doch ich denke auch an Familien wie meine eigene mit vielen Kindern, wo Klassenausflüge der Schwester nur durch Sparen möglich sind. Klimaschutz muss effizient, aber auch umsetzbar sein – wir haben Solarpanels schon auf dem Dach.

Semmler: Wir müssen zum Beispiel als ersten Schritt weg von Subventionen des Individualverkehrs und in den ÖPNV mehr investieren. Eine Frage an Sie beide liegt mir die ganze Zeit schon auf der Zunge: Sie sind 20 und 22, aber ich habe das Gefühl, ich rede mit Vierzigjährigen hier – kein Angriff –, die davon reden, dass sie Unternehmen aufbauen können und dass sie mal sehr viel Geld in ihrem Leben machen. Von der Zukunft, außer Ihrer eigenen Karriere-Zukunft, spüre ich nichts. Die wird hier im Raum verdrängt.

Wirth: Aber es geht doch nicht um ein Unternehmen, was ich retten will, sondern es geht mir um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Es geht mir um Arbeitsplätze, nicht um meinen Arbeitsplatz, sondern um alle Arbeitsplätze. Ich habe dieselbe Angst wie Sie um die Zukunft. Ich finde auch, wir müssen beim Klimaschutz schneller werden. Ich muss damit noch viel länger leben als Sie, aber ich sehe da superhohe Klimaauflagen kommen. Doch das bringt uns gar nichts, weil es dann keine Unternehmen hier mehr gibt und sie alle nach China abwandern und dort ihre klimaschädlichen Emissionen emittieren. Und wir haben hier dann keine Wirtschaft mehr. Wo gibt es dann noch Essen und Trinken hier? Wenn die Menschen sich das hier gar nicht mehr leisten können.

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Sich so jung wie Herr Oehme und Frau Wirth politisch zu engagieren, ist nicht typisch. Herr Semmler, ist das für Sie fehlgeleitete Energie oder haben Sie Respekt?

Semmler: Ich habe einen großen Respekt vor den beiden. Bevor ich mich überhaupt mit politischer Teilhabe beschäftigte, habe ich mit 18 gesellschaftskritische Musik gemacht und die Kapitalismuskritikerin Naomi Klein gelesen. Dann habe ich studiert, gearbeitet und erst mit 35 friedlichen Widerstand in einem Kloster in Südfrankreich kennengelernt. Wenn ich mir heute Leute um die 18, 20 angucke, nehme ich vor allem zwei Haltungen wahr: Leute, die gar nichts machen, und Leute, die es begriffen haben. In einer Unbedingtheit und Radikalität und Ehrlichkeit. Ich denke, wir brauchen gerade zweierlei: den parlamentarischen und außerparlamentarischen Weg. Wo wir uns wahrscheinlich alle hier treffen, ist: Hauptsache kein Schritt nach rechts bei dieser Wahl. Und dass wir Leute bewegen, zur Wahl zu gehen, sie aus dieser Passivität rausholen. Also, dass sie wählen gehen.

Wirth: Ja.

Oehme: Ja. Ein wichtiger Punkt ist auch: Wir müssen auf die Dörfer gehen und dort die Leute abholen, das kenne ich aus meiner Heimat im Osten. Dort sind die Protestwähler. Und die extremen Ansichten.

Semmler: Exakt. Ja, oder noch schlimmer, nicht nur Protestwähler, sondern Personen, die auch ganz komische Protestformen wählen. Wenn ich daran denke, wie etwa Habeck blockiert wurde auf dem Schiff. Ich finde allgemein, dass die Bauern bei den Protesten besser wegkamen medial und politisch als zum Beispiel wir. Aber sie sind eben mächtiger. Manchmal frage ich mich: Hat die Polizei nicht die Kräfte dafür? Denn dann müssten eben mal Traktoren beschlagnahmt werden. Die Bauern haben Straßensperren mit Passierscheinen gemacht, bei ihren Protesten ist jemand umgekommen. Und dann gibt es bei mir eine Hausdurchsuchung, und alles, was sie mitnehmen, sind ein PC, Kleber und Sand. Das ist eine Unverhältnismäßigkeit und übertriebene Kriminalisierung.

Oehme: Kritik gibt es auch an Ihren Protestformen.

Semmler: Wir werden niemals Veränderung erreichen ohne Aufregen. Die Suffragetten, die das Frauenwahlrecht erstritten haben, hatten ganz andere Methoden. Dagegen sind wir harmlos.

Wirth: Ich bin auch die Erste, die bei jeder Demo dabei ist, sei es 1. Mai oder gegen rechts. Die Demo ist dann aber das richtige Format, das wir haben. Protestformen brauchen nicht immer ein Blockieren oder Zerstören.

Semmler: Die Demos gegen rechts, haben bisher nichts bewirkt. Wir haben immer noch kein AfD-Verbot.

Wirth: Wir sehen schon, dass die AfD deutlich runter gegangen ist und wir deutlicher die Debatte führen.

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

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