Universität

Mannheimer Studierende holen NS-Opfer aus der Vergessenheit

Ein Buchprojekt von Studierenden zeichnet die Schicksale NS-Verfolgter an der damaligen Handelshochschule Mannheim nach. Entstanden sind 81 bewegende Biografien

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Insgesamt 33 Autoren haben Biografien von Menschen zusammengetragen, die von den Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben oder ermordet wurden. © Viola Renner-Motz

Mannheim. Als die arische Ehefrau 1942 an Tuberkulose stirbt, nimmt Arthur Blaustein vier Wochen später Gift. Der wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem Amt gedrängte Syndikus der Mannheimer Handelskammer und Dozent mit Professorentitel hat mit dem Tod der katholischen Frau auch den Schutz einer sogenannten Mischehe verloren. Sein Schicksal gehört zu jenen 81 Biografien, die in einem Sammelband ausgeleuchtet werden: „Verdrängt, vertrieben, ermordet. Opfer von NS-Verfolgung an der Handelshochschule Mannheim“.

Dass die Universität mehr als neun Jahrzehnte nach Hitlers Machtergreifung die Rolle der damaligen Handelshochschule untersucht, ist einem besonderen Projekt zu verdanken: 33 Studierende sowie Frauen und Männer, die am Gasthörerstudium teilnehmen, haben für das Gedenkbuch aufwendig recherchiert. Als das im Verlag Regionalkultur erschienene 376-Seiten-Werk (34,80 Euro) im Fuchs-Festsaal der Schloss-Uni präsentiert wird, reichen die Sitzplätze nicht aus.

Gekommen ist auch der bis Ende September amtierende Rektor Thomas Puhl, mit dessen Unterstützung die zwei Projektseminare angestoßen worden sind. Die Historikerin Angela Borgstedt, Leiterin der Forschungsstelle Widerstand, und Sandra Eichfelder, Geschäftsführerin des Universitätsarchivs, erläutern als Herausgeberinnen das Konzept, bei dem im Mittelpunkt stand: Was ist aus jenen Menschen geworden, die aufgrund ihrer „jüdischen Rasse“ oder wegen politischer Missliebigkeit um ihre berufliche Zukunft samt Lebensträumen gebracht worden sind. „Aus dem Amt gedrängt – Um den Abschluss gebracht – Aus der Laufbahn geworfen – Nicht mehr verdienstvoll?“ – unter diesen Schlagzeilen nehmen Lebenswege von Lehrkräften, Studierenden, Hochschulangestellten und Mannheimer Ehrenwürdenträgern Gestalt an, je nach Quellenlage mehr oder weniger detailliert.

Dolmetscher Gutkind und die Nürnberger Prozesse

„Romanist, Übersetzer und Spiritus Rector des ersten Dolmetscher-Instituts weltweit“ heißt es über dem Kapitel zu Curt Sigmar Gutkind: Er hat völlig neue Unterrichtsmethoden eingeführt. Beispielsweise das Simultan-Dolmetschen, das mittels rauschender Lautsprecheranlage und Telefonapparatur geübt wurde. Damals konnte niemand ahnen, dass diese Methode bei den späteren Nürnberger Prozessen gegen NS-Kriegsverbrecher ihren Durchbruch erleben würde. Aber das sollte Gutkind nicht mehr erleben.

Überrollt von den Verfügungen zu nicht-arischen Wissenschaftlern verließ er 1933 panikartig seine Heimatstadt – gemeinsam mit der Tochter des von 1914 bis 1928 amtierenden Mannheimer Oberbürgermeisters Theodor Kutzer, mit der er verheiratet war. Vergeblich versuchte das Paar, in anderen Ländern zu Fuß zu fassen. Weil Gutkind die Abschiebung drohte, bestieg er am 1. Juli 1940 in Liverpool die „Arandora Star“, die einen Tag später vom Torpedo eines deutschen U-Bootes versenkt wurde. Der 44-Jährige sollte nicht zu den rund 700 Passagieren gehören, die gerettet wurden.

Als die Nazis an die Macht kamen, hatte Käte Heilbrunn, die als Tochter eines jüdischen Kantors aus Thüringen stammte, bereits an der Mannheimer Handelshochschule das kaufmännisch Diplom erworben. Die dafür notwendige Arbeit beschäftigte sich mit „der Haushaltsgestaltung der israelitischen Religionsgemeinschaft Mannheim“. 1933 wurde sie vom Studium „beurlaubt“. Auf ihrer Personalakte hat man vermerkt, dass dieser Ausschluss für alle Universitäten im Reich gilt.

Als sie sich für ein Entschädigungsverfahren in Mannheim die erzwungen Exmatrikulation bescheinigen lassen wollte, versuchte die neue Hochschulverwaltung mit der unzutreffenden Aussage, es habe gar keine Ausschlüsse jüdischer Studierende gegeben samt der Behauptung nicht mehr vorhandener Unterlagen, Käte Heilbrunn-Wolf abzuwimmeln. Sie beharrte jedoch auch auf eine Archiv-Einsicht und fand ihre Karte samt dem Vermerk ihrer Zwangsexmatrikulation – allerdings wurde angegeben, diese sei aus „politischen Gründen“ erfolgt.

Karriere an der DDR-Akademie der Wissenschaften

Zu jenen, die aus ihrer akademischen Laufbahn geworfen wurden, gehört Wilhelm August Ludwig Fraenger: „Bibliotheksdirektor, als Kommunist abgestempelt“. Während seinem kunsthistorischem Studium in Heidelberg hatte er den Dramatiker Carl Zuckmayer kennengelernt, der ihn in seinen Memoiren so beschrieb: „Ungewöhnlich wie sein Geist und seine sprühende Fantasie war seine Erscheinung, die sich von allen anderen Gestalten der akademischen Welt aufs originellste abhob…“. Fraenger sollte 1946 Stadtrat in Brandenburg an der Havel werden und später an der DDR-Akademie der Wissenschaften Karriere machen.

Bei einem Podiumsgespräch geben vier Autoren Einblicke in ihre Recherchen, die manchmal nur mit einem Namen und höchst spärlichen Informationen begannen. Besuche in Archiven führten weiter – außerdem Reisen zu verstreut lebenden Angehörigen. Unisono schildern die Männer und Frauen, die sich auf Spurensuche machten, wie berührend sie es empfanden, Menschen aus der Vergessenheit zu holen und ihre Lebenswege nachzuzeichnen – zum Gedenken und Nachdenken.

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